Können Anarchismus und Liberalismus gemeinsam für gleiche Ziele kämpfen?
Können Anarchismus und Liberalismus gemeinsam für gleiche Ziele kämpfen?

Können Anarchismus und Liberalismus gemeinsam für gleiche Ziele kämpfen?

von Helmut Krebs

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In meiner Untersuchung über die unüberwindlichen Gegensätze der beiden Ideologien1 blieb die Darstellung der Gegensätze weitgehend abstrakt. Ich will versuchen anhand von konkreten Themenbereichen und praktischen Einzelfragen meine Behauptung verdeutlichen. Die Darstellung der Positionen ist natürlich typisierend.

Thema

Anarchismus

Liberalismus

Zielstellung

auf ideale Welt bezogen (utopisch)

auf die reale Welt bezogen (visionär)

Recht

Naturrecht, Selbsteigentum

Konventionen, Recht, Gesetze

Moral

deontologisch

konsequentialistisch

Staat allgemein

abschaffen

Sicherung der res publica, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Verfassung, unveräußerliche Grundrechte (Freiheit und Eigentum); freie, allgemeine, geheime und gleiche Wahlen, Redefreiheit

Gesellschaft

dagegen; Verträge statt Recht, keine res publica

dafür; Bürgergesellschaft, pluralistisch, offene Gesellschaft (Popper)

Verfassung (Grundgesetz)

dagegen; ist Unrecht, weil sie den Staat begründet; muss bekämpft werden

dafür; ist nützlich zur Schaffung und Erhaltung einer Rechtsordnung, kann und muss verbessert werden

Aggression

Anti-Agressionstheorem, Sicherheitsdienstleister

Gewalt einhegen durch Monopolisten, der intensiver Kontrolle unterliegt

Herrschaft

wird verstanden als Macht zu zwingen und Perzeption des permanenten Gezwungenwerdens

Herrschaft benötigt Legitimität (Max Weber)

Nationalstaat

dagegen; betreibt Separatismus

dafür; historische Errungenschaft, toleriert Separatismus auf der Grundlage ethnischer Gesichtspunkte

Sezession

grundsätzlich und bedingungslos dafür

nur in begrenztem Maße als landsmannschaftliche Abspaltung eines Territoriums

Staat als Zwangs- und Gewaltapparat (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gefängniswesen, Gerichte)

dagegen; ist das Böse schlechthin

dafür; notwendig zur Verhinderung von Rechtsbrüchen, zum Schutz der Bürger vor Kriminalität, zur Unterdrückung von gewaltsamen Umstürzen

bewaffnete Streitkräfte

dagegen; müssen als Machtbasis des Staates bekämpft werden

dafür; sind notwendig zur Verteidigung des Landes nach außen

Bürgerbewaffnung

generell dafür

unter den heutigen Bedingungen in Deutschland dagegen

Nato

dagegen; Ablehnung, da Gewaltapparat, antiamerikanistische Vorbehalte; isolationistische Haltung

dafür; Zustimmung zum transatlantischen Verteidigungsbündnis als einzig realistischer Möglichkeit, präventive Politik

Geheimdienste

dagegen; Geheimnisverrat ist gut

dafür; Geheimnisverrat ist strafbar

Sicherheitsunternehmen

dafür als privater Dienstleister

nur begrenzt in der Übernahme von Teilen öffentlicher Aufgaben

Europäischer Einigungsprozess (EU)

grundsätzlich dagegen; Verunglimpfung der EU als EUdSSR; die EU gleichzusetzen mit dem totalitären Sowjetsystem, muss bekämpft werden

Präferenz für Freihandel und Freizügigkeit, nicht grundsätzlich dagegen, Kritik an Bürokratie und Interventionismus, an der Aushöhlung der nationalen Souveränität

Steuern

dagegen; sind Diebstahl, nur freiwillige Zahlungen rechtens, Steuerhinterziehung ist gut

dafür; sind notwendig und rechtlich, sofern Bedingungen eingehalten werden, müssen deutlich gesenkt werden, Steuerhinterziehung ist strafbar

Enteignungen (etwa Grundstücksverlegungen zum Straßenbau)

unzulässig; nur freiwillig rechtens

zulässig; bei Entschädigung und starkem öffentlichen Interesse

öffentliche Güter (Infrastruktur, Bildungswesen)

dagegen; nur private sind zulässig

auch staatliche sind zulässig, müssen so weit wie möglich privatisiert werden

Daseinsvorsorge (Krankenkassen, Rentenkassen usw.)

nur private Regelungen sind zulässig

gesetzliche Regelungen sind zulässig, individuelle private Vorsorge soweit wie möglich

Armenpflege

nur private Regelungen sind zulässig

gesetzliche Regelungen sind zulässig

Freihandelsabkommen, TTIP

dagegen

dafür

Israel

keine Meinung, geht uns nichts an

Unterstützung des Rechts auf einen eigenen Staat und Hilfe bei der Verteidigung gegen die arabische und islamistische Bedrohung

Ukraine-Konflikt

im Griff des EU-Expansionismus

unter Bedrohung durch russischen Expansionismus

Diese Beispiel zeigen, dass die Positionen diametral gegensätzlich sind. Selbstverständlich sind die Meinungen der einzelnen Anhänger und Untergruppierungen differenzierter. Es gibt Übergänge und Abstufungen in beiden Lagern. Doch die gegensätzlichen Ideologien erzeugen unvermeidlich gegensätzliche und unüberwindliche Standpunkte in sehr vielen politischen Fragen.

Die Abschaffung des Staates ist das alles überragende Ziel und der Weg für den Anarchismus. Der Staatsbegriff wird undifferenziert als monolithische Einheit verwendet. Der Liberalismus unterscheidet zwischen dem Staat als Gewalt- und Zwangsapparat, dem Staat als Rechtsordnung, dem Staat als Nation und Verfassungsgemeinschaft, dem Staat als zentrale Steuerungsinstanz für ökonomische und gesellschaftliche Prozesse u.a. Weniger Staat, weniger Planwirtschaft, weniger Bürokratie und mehr Selbststeuerung, mehr persönliche Freiheit und mehr Markt, dafür können Liberale Angebote machen. Anarchisten bleiben diesbezüglich stumm. Sie haben eine dichotomische Weltsicht: hier der Einzelne, dort der Staat. Der Einzelne ist heilig, der Staat ist böse und muss in jeder Erscheinungsform bekämpft werden. Nicht nur das ideale Design der Welt, sondern auch das Hinarbeiten auf eine bessere trennt beide. Den Anarchisten fehlen Instrumente, um die Kooperation und die Kultur, die eine Bürgergesellschaft ausmacht, zu vermitteln. Der Liberalismus unterscheidet zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Großgesellschaft und Kleingesellschaft, zwischen Marktfreiheit und Herrschaftsverband, zwischen öffentlicher und privater Sphäre der Individuen, zwischen Recht und Moral und untersucht die komplexen Wechselbeziehungen zwischen diesen Systemen. Der Liberalismus entdeckt die mit dem Fortschreiten der Arbeitsteilung zunehmende Komplexität der Weltgesellschaft. Der Anarchismus strebt nach Reduktion und Vereinfachung, nach einer Utopie freier Einzelner, die untereinander nur durch freiwillige und kündbare Verträge verbunden sind.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass die beiden Strömungen grundsätzlich kooperieren könnten. Übereinstimmungen sind eher zufällig und tragen kein festes Bündnis. Wo die Anhänger Zusammenarbeit suchen, durchkreuzen die ideologischen Sichtweisen die Absichten. Beide Strömungen befinden sich wegen der ideologischen Divergenzen nicht auf einem gemeinsamen Weg zum gleichen Ziel, wobei die eine früher aussteigt will als die andere und wobei die Unterschiede in die Zukunft vertagt werden können. Die Unterschiede brechen in allen konkreten Fragen hier und heute auf. Die Auseinandersetzungen der Anhänger sind häufig aggressiv und feindselig und eskalieren zu persönlichen Angriffen. Die Divergenzen zwischen Anarchismus und Liberalismus sind nicht kleiner als die zwischen Ökologismus oder Sozialismus einerseits und dem Liberalismus andererseits.