„Getting Mises right“ – eine Bemerkung zur ÖKT
„Getting Mises right“ – eine Bemerkung zur ÖKT

„Getting Mises right“ – eine Bemerkung zur ÖKT

Smart Investor Leser konnten in den letzten beiden Ausgaben unterschiedliche Auffassungen zur Österreichischen Konjunkturtheorie (ÖKT) lesen.[1] Im Kern geht es um zwei Fragen:

  1. Führen die praktizierte Politik des billigen Geldes und die Manipulation des Zinses die Welt oder Europa an den ökonomischen Abgrund?
  2. Welche Rolle spielen die spezifischen Umstände für die im Kern zeitlose Boom und Bust Theorie?

Einerseits ließe sich feststellen, dass kaum ein Dissens zwischen den beiden Österreichern Polleit und Prollius besteht. Beide sind der Auffassung, dass ein künstlicher, weil rein monetär bedingter Boom eine Bereinigung nach sich zieht. Andererseits scheint es Differenzen hinsichtlich des Ausmaßes der Bereinigung heute und der grundsätzlichen Bedeutung der Umstände zu geben. Gerade der letzte Aspekt hat es in sich, weil er die Theorie im Kern betrifft und für die Mustervorhersage bedeutend ist: Fällt der Crack-up-Boom aus?
Wie argumentiert Ludwig von Mises? In seinem Standardwerk Human Action, das gerade ins Deutsche Übersetzt wird, schreibt er (Kapitel XX.6):

Die Wirtschaft haussiert so lange, wie die Banken bereit sind, den Kredit immer mehr auszuweiten. …

Dieser Zusammenbruch tritt in dem Augenblick zutage, in dem die Banken, durch den immer rascheren Fortgang der Hausse ängstlich geworden, die weitere Kreditausweitung einstellen.

und

Auf jeden Fall ist die unmittelbare Folge einer Kreditausweitung ein Anstieg des Verbrauchs auf Seiten jener Lohnempfänger, deren Löhne wegen der verstärkten Nachfrage nach Arbeit gestiegen sind, die wegen des expandierenden Unternehmers ausgeboten wird.

und

Er könnte aber auch nicht ewig anhalten, wenn Inflation und Kreditausweitung endlos weitergehen sollten. Er würde dann auf die Hindernisse stoßen, die die schrankenlose Kreditausweitung verhindern. Er würde zu einer Katastrophenhausse und zum Zusammenbruch des ganzen Währungssystems führen.

Die Zitate machen folgendes deutlich:
1. Für einen monetär bedingten Boom müssen die Banken den Kredit ausweiten. Für den bereinigenden Bust müssen sie ihre Kreditausweitung beenden.
Heute kommt die Liquidität der Zentralbanken indes nicht als Kreditausweitung in der Realwirtschaft an. Die Liquidität konzentriert sich zunehmend auf den Märkten für Staatsanleihen. Das ist auch eine Folge der Regulierung – Banken beschränken sich wesentlich auf Aktivitäten mit geringem Kapitalbedarf.
Das bedeutet: Die apriori Theorie bleibt unwidersprochen, weil sie nicht greift.
Mises nennt im angesprochenen Kapitel selbst Gründe, warum es nicht zu einem Boom kommt, obwohl die Kreditmenge ausgeweitet wird, etwa wenn eine höhere Besteuerung steigende Gewinne neutralisieren würde. Gleiches gilt für seine Argumentation zum künstlich abgesenkten Zins („Dann [im Falle eines Wegsteuerns oder einer Restriktionspolitik, MvP] wird der niedrige Zinssatz wirkungslos bleiben, weil er dem Unternehmer keine Gewinnaussichten eröffnet.“) Und Mises beschreibt die Notwendigkeit einer fortgesetzten wirksamen Täuschung der Unternehmer, die immer billigere Kredite erhalten müssen.
2. Zusammen mit der Kreditausweitung zu beobachten sind Lohnsteigerungen, und zwar bei den Arbeitnehmern, deren Fähigkeiten nachgefragt werden.
Das ist die Vorphase der klassischen Lohn-Preis-Spirale: steigende Löhne werden dann auf die Preise abgewälzt, auf Inflation folgt Teuerung.
Heute ist dieses Phänomen nicht zu beobachten. Im Gegenteil sind Lohnzurückhaltungen und darüber hinaus Reformen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ein Produktivitäts- und Wachstumstreiber. Die mangelnde Teuerung von Konsumgütern ist ein zentrales Merkmal der Finanz- und Staatsschuldenkrise – nicht nur aus österreichischer Sicht verlangt es nach Erklärungen.
3. Im Fall einer endlos fortgeführten Ausweitung der Geld- und Kreditmenge kommt es zu einem katastrophalen Zusammenbruch des gesamten Währungssystems.
Das gilt aber in der Wirtschaftsgeschichte nur dann, wenn die Geld- und Kreditmengenausweitung ins Extreme getrieben wurde. Mises schreibt (Kapitel XX.6):

Wenn die Kreditausweitung nicht rechtzeitig gestoppt wird, kehrt sich der Aufschwung in eine Katastrophenhausse; die Flucht in die Sachwerte beginnt, und das ganze Geldsystem geht unter. Die Banken haben aber in der Vergangenheit in der Regel die Dinge nicht so weit getrieben. Sie waren zu einem Zeitpunkt gewarnt, als die Schlusskatastrophe noch weit weg war.

Derzeit finde aber keine unbegrenzte Kreditausweitung statt. Eine Katastrophenhausse ist daher nicht programmiert. Und in der jüngeren Vergangenheit – wie in der Zukunft absehbar auch – treiben es die Banken, und auch die Zentralbanken, nicht so weit, dass die Schlusskatastrophe auch nur in sichtbare Nähe rückt. Selbst diese bürokratischen Institutionen sind ein Stück weit lernfähig und haben kein Interesse an einem Zusammenbruch.
Mises hat also nicht nur eine apriori Theorie formuliert, sondern ihre Anwendung empirisch, wirtschaftshistorisch fundiert. Auch heute würde Mises zunächst eine präzise Analyse der konkreten Wirtschaftsaktivitäten – der Bedingungen vornehmen – um dann passgenau die ÖKT anzuwenden.
Dabei würde er vielleicht auf folgende Aspekte schauen, auf den ersten sogar mit Sicherheit:

  • Die Erwartungen der Marktteilnehmer, die sich im Hinblick auf die Geldmengenausweitung der Zentralbanken verändern müssen (ihr Glaube an eine fortwährende Hausse oder an einen Zusammenbruch der Währung). Mises stellt die Erwartungshaltung der Menschen mit ins Zentrum seiner Ausführungen über Kaufkraftänderungen (Kapitel XVII.8). Das gilt auch für das Eintreten einer Hyperinflation („Wenn ein Ding als Tauschmittel verwendet werden soll, darf die öffentliche Meinung nicht glauben, dass die Menge dieses Dings grenzenlos zunehmen wird.“). Dementsprechend ist eine Zentralbank solange im „grünen Bereich“ wie sie das Vertrauen der Menschen in die Währung nicht zerstört und die Geldmenge nicht in einem Maße steigert, dass die Menschen eine drastische Teuerung und schließlich einem Verfall der Kaufkraft erwarten. Beides ist heute nicht der Fall – kleine Zirkel von Menschen ausgenommen.

Ferner würde Mises vermutlich betrachten:

  • Das Ankommen der Geldvermehrung in der Realwirtschaft.
  • Die Funktion der FED als Weltleitzentralbank und die integrierte Weltwirtschaft mit Währungssystemen, die sich vom Goldstandardmechanismus grundlegend unterscheiden.
  • Die Stabilität der Konsumgüterpreise und disinflationäre Effekte (Ölpreisverfall).
  • Eine entschleunigte Geldmenge (siehe dazu auch die Ausführungen von Helmut Krebs: Über den Charakter unseres heutigen Geldes).
  • Vermögenspreisinflation, aber keine massenhaften „Überinvestitionen“. Im Gegenteil: Weder in Deutschland respektive im Euro-Raum noch in den USA lassen sich trotz jahrelanger Politik des billigen Geldes Überinvestitionen feststellen. Die Daten des statistischen Bundesamtes sprechen eine klare Sprache. Das Bundesfinanzministerium sieht sich sogar genötigt gegen die kursierenden Nachrichten über eine ausgeprägte Investitionsschwäche anzuschreiben. In den USA bleibt ein Investmentboom trotz rund 5 Billionen USD Quantitative Easing aus.

Ludwig von Mises argumentierte stets sehr klar und differenziert. Das Fehlen eines Ökonomen (und Soziaphilosophen) von seiner geistigen Größe und mit seiner gedanklichen Klarheit macht sich heute schmerzlich bemerkbar.
Michael von Prollius
 
Nachtrag zum Weiterdenken:
Scott Sumner, einer der einflussreichen bloggenden US-Ökonomen, ist zwar ein Marktmonetarist, steht aber den Österreichern nahe und dem Bereich Geldpolitik des Mercatus Center an der George Mason University vor. Sumner stellt die These auf, dass die Niedrigzinsen in den USA möglicherweise nicht weit vom Marktzins entfernt sein könnten. Es sei unwahrscheinlich, dass eine Zentralbank über einen langen Zeitraum die Zinsen gegen den Markt herunterdrücken könne, ohne dass es zu signifikanten Begleiterscheinungen komme, vor allem Inflation. Die Frage sei stets, was die Ursache für die niedrigen Zinsen oder auch niedrige Preise sei. Eine geringe Nachfrage nach Investitionen wäre mit niedrigen Zinsen nicht nur vereinbar, sondern geradezu die Regel. Unternehmen handelt im Konjunkturzyklus prozyklisch. Zudem könne das verlangsamte Bevölkerungswachstum eine Rolle spielen, weil das die Investitionsnachfrage drossele (Für die österreichische Zinstheorie – Stichwort: Zeitpräferenz – bemerkenswert ist auch seine Bemerkung, Australien weise die höchsten Zinsen der entwickelten Länder und das höchste Bevölkerungswachstum auf, beim überalterten Japan sei es umgekehrt). Sumner thematisiert also die Bedeutung nicht-monetärer Einflüsse. Das ist bedenkenswert.
 
 
Anmerkung:
[1]
Thorsten Polleit: Zeitlose Krisentheorie. Das Ausweiten der Geldmenge durch Kredite, die nicht durch echte Ersparnis gedeckt sind, löst einen „Boom“ aus, der in einem „Bust“ enden muss. Das ist eine zeitlose ökonomische Erkenntnis. Sie gilt damals wie heute, erschienen in Smart Investor 6/2015, 27-29.
Michael von Prollius: Der Crack-up-Boom fällt aus! Die 1920er Jahre lassen sich nicht eins zu eins auf heute übertragen, erschienen in Smart Investor 5/2015, 23-25 (SI_150501_No-Crack-up-Boom).