Der Totalitarismusbegriff nach Hannah Arendt und F. A. Hayek – Eine vergleichende Analyse
Der Totalitarismusbegriff nach Hannah Arendt und F. A. Hayek – Eine vergleichende Analyse

Der Totalitarismusbegriff nach Hannah Arendt und F. A. Hayek – Eine vergleichende Analyse

von Maximilian Tarrach
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1. Aufgabenstellung und Hinführung

 
Ziel dieser Arbeit ist es, auf der Basis zweier Denker, eingeschränkt auf hauptsächlich zwei ihrer Werke,[1] dem Phänomen des Totalitarismus näher zu kommen. In dieser Arbeit wird die Ansicht vertreten, dass saubere Begriffe klares Denken, wenn nicht garantieren, so doch entscheidend fördern können. Deshalb liegt der zentrale Fokus dieser Arbeit auf der Erstellung einer Arbeitsdefinition des Totalitarismusbegriffs, welcher das Wissen von Hannah Arendt und F.A. Hayek zusammenführen soll. Bei beiden Denkern findet sich kein solch formaler und klarer Totalitarismusbegriff, sondern lässt sich nur durch implizites Schließen erarbeiten. Dabei steht die Hypothese im Raum, dass sich die beiden unterschiedlichen Denkansätze ergänzen sowie gegenseitig befruchten können und sich nur in Randpunkten konträr verhalten.
Der Grund, warum die Wahl dieser Arbeit auf gerade diese zwei Denker fiel, ist vielschichtig. Zum einen schrieben Hannah Arendt und F.A. Hayek beide echte Klassiker der Totalitarismusforschung. Hayek zuerst mit seinem Werk „Der Weg zur Knechtschaft“[2] von 1944 und Hannah Arendt mit ihrem 1951 erschienenen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“[3]. Beide Werke entwickelten sich in kurzer Zeit trotz ihres wissenschaftlichen Stils zu ernormen Bucherfolgen.[4] Zum anderen handelt es sich bei beiden Autoren um Opfer des Totalitarismus in dem Sinne, das beide Denker ihr Heimatland aufgrund der Naziherrschaft verlassen mussten. Hayek emigirierte in weiser Voraussicht bereits 1931 von Österreich nach England, um in London einen Lehrstuhl anzunehmen, wurde 1938 englischer Staatsbürger und verblieb bis in die 1950er Jahre hinein in England.[5] Seine Vorsicht erwies sich als angemessen, denn als bekennender Liberaler wurde er nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938 auf den Listen der Gestapo geführt. Hannah Arendt, gebürtige Deutsche und Jüdin, hatte in den 1930er Jahren Deutschland den Rücken gekehrt und hielt sich in Paris auf, wo sie durch Engangement für die zionistische Sache auffiel.[6] Sie geriet nach dem Einmarsch der Nazis 1938, allerdings noch vor der Besetzung Paris’, in Kriegsgefangenschaft und wurde in ein Internierungslager geschickt, da sie nun für die Franzosen eine „feindliche Ausländerin“ darstellte.[7] Zu ihrem Glück gelang ihr noch 1940 die Flucht, denn „in den Jahren 1942 und 1943 wurden die meisten der Insassen, die die grausamen Lagerbedingungen überlebt hatten, von den Deutschen in Vernichtungszentren transportiert.“[8] Nach gut einem Jahr des Versteckens in Marseille konnte Arendt nach Lissabon ausreisen und erhielt ihr rettendes Visum für die Auswanderung in die USA, wo sie in New York eine neue Heimat für sich finden sollte.[9]
Obwohl beide Denker in diesen Hinsichten ähnliche Hintergründe vorzuweisen haben, könnte ihre Art und Intention der Buchveröffentlichung unterschiedlicher doch nicht sein. Auf der einen Seite steht F.A. Hayek, der liberale Ökonom, welcher mitten im Krieg in England erkennen muss, dass sich die dortigen Intellektuellen von denselben Ideen leiten lassen, die seiner Ansicht nach in einer ideengeschichtlichen Kette zum Totalitarismus stehen.[10] Gerade das liberale England, das Geburtsland des modernen Lebens und des Kapitalismus war dem Kollektivismus und Konstruktivismus hoffnungslos verfallen.[11] Hayek wollte mit seinem Buch aufschrecken und die intellektuelle Schicht Englands von ihrem Irrweg abbringen. Ihm ging es damit weniger um die Bewältigung der Vergangenheit als vielmehr um die Gestaltung der Zukunft und dem Retten von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft, alles Werte, welche er damals in Gefahr wähnte. Dabei stellt „Der Weg zur Knechtschaft“ auch privat für Hayek eine Wende dar, ist es doch das erste Werk, indem er seinen Fokus von der Ökonomie im engeren Sinne aufgibt und sich mehr und mehr der Sozialphilosophie zuwendet.[12] „Der Weg zur Knechtschaft“ ist daher zwar von seinem ökonomischem Hintergrund geradezu durchtränkt, doch die philosophische Seite Hayeks blitzt an allen Ecken und Enden bereits auf.
Auf der anderen Seite befindet sich Hannah Arendt, die Schriftstellerin und Philosophin, welche 1943 in New York erstmals von dem vollen Umfang der Gräueltaten der Nazis in den Konzentrationslager erfährt.[13] Geschockt und erschreckt von der Grausamkeit und Willkür dieses Terrors beginnt sie zu schreiben und das Geschehene zu verarbeiten. Über sechs Jahre arbeitet sie an dem Buch. Ihr Werk will keine politische Wende herbeiführen, es soll die Frage nach dem »Warum?« des Terrors und der Vernichtungslager behandeln und es soll die tiefe Erschütterung ausdrücken, welche Hannah Arendt empfindet. Dabei wendet sie sich einer umfassenden Geschichtsanalyse zu, auch wenn sie ihr Werk selbst nicht als historische Abhandlung versteht.[14] Ihr geschichtlicher Horizont und ihre Ideenanalyse ist breit und reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Nur durch die Analyse der letzten 200 Jahre europäischer Geschichte meint sie, das Erfahrene erklärbar machen zu können. Ihre anschließende Untersuchung des Totalitarismus ist von ihrer Interdisziplinarität aus Geschichtswissenschaft, Philosophie und Psychologie geprägt.
Die Blickwinkel der beiden zu untersuchenden Sozialphilosophen sind somit vollkommen verschiedene, doch gerade dadurch wird ein Vergleich um so interessanter. Darüberhinaus ist ein solcher Vergleich bisher in der Literatur rar gesät, wenn er überhaupt versucht worden ist.[15] Arendt-Leser sind keine Hayek-Kenner und umgekehrt. Diesem ungeschriebenen Gesetz soll mit dieser Arbeit entgegengetreten werden. Um die Arbeit sinnvoll einzugrenzen, wird sich die vorliegende Analyse auf die folgenden Werke beschränken müssen: Zum einen „Der Weg zur Knechtschaft“ von Hayek und zum anderen die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Arendt.[16]
 
[1] Bei den beiden Denkern handelt es sich um Hannah Arendt sowie F.A. Hayek und bei den beiden Werken um die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ [vgl. Arendt (1951)] und dem „Weg zur Knechtschaft“ [vgl. Hayek (1944)].
[2] Vgl. Hayek (1944).
[3] Vgl. Arendt (1951).
[4] Bei Hayek sprechen die Verkaufszahlen seines Werkes für sich, vgl. Habermann (2014), S. 1: „Dieses „politische“ Buch Friedrich August von Hayeks – 1940–1943 konzipiert, 1944 in England mit sofortigem überraschenden Erfolg (bis Mai 1945 60.000 verkaufte Exemplare) publiziert, ist, von Hayek kaum erwartet, zum zeitlosen liberalen Klassiker avanciert […].“ Bei Hannah Arendt kann die Setzung ihres Werkes auf die Liste der 100 besten non-fiktionalen Bücher des 20. Jahrhunderts durch den „National Review“ als Beweis für ihren Erfolg dienen. Aufrufbar hier: http://www.nationalreview.com/article/215718/non-fiction-100, zuletzt geprüft: 21.02.2015.
[5] Vgl. Horn (2013), S. 56, S. 63: „Hitler vollzieht Anfang 1938 in Österreich den seit langem diskutierten „Anschluss“. Hayeks Name wird bald auf den Listen der Gestapo geführt. Seine jüdischen Freunde in Österreich fliehen, geraten in Haft oder begehen Selbstmord. […] Von der Gesamtentwicklung erschüttert, nimmt Hayek noch 1938 die britische Staatsbürgerschaft an.“
[6] Vgl. Young-Bruhel (1982), S. 160ff, S. 173: „In Paris, wo sie für Organisationen arbeitete, die jüdischen Flüchtlingen halfen, nach Palästina auszuwandern, und Rechtshilfe für Antifaschisten anboten, streifte sie die unpolitische Haltung ihrer Universitätszeit ab.“
[7] Vgl. Young-Bruehl (1982), S. 223. Vgl. auch ibid., S. 224.
[8] Vgl. Young-Bruehl (1982), S. 227.
[9] Vgl. Young-Bruehl (1982), S. 232.
[10] Vgl. Hayeks Vorwort zur Neu-Herausgabe seines Buches »Der Weg zur Knechtschaft« im Jahre 1971, in dem er den Grund für das Abfassen der ersten Auflage erläutert, Hayek (1944), S. 233: „In seiner ursprünglichen englischen Fassung ist das Buch während des Zweiten Weltkrieges in England entstanden und zunächst dort zu Anfang des Jahres 1944 erschienen. Es war in erster Linie an jene Kreise der sozialistischen Intelligenz Englands gerichtet, die im Nationalsozialismus eine „kapitalistische“ Reaktion gegen die sozialen Tendenzen der Weimarer-Republik sahen, und sollte ihnen verständlich machen, […] [d]aß eine zentrale Leitung der gesamten Wirtschaft, wie sie zumindest der ältere Sozialismus anstrebte, zu einer totalitären politischen Herrschaft führen muß […].“
[11] Eine Klärung der Begriffe ‘Konstruktivismus’ und ‘Kollektivismus’ aus Hayeks Werk heraus, wird im 3. Kapitel dieser Arbeit vorgenommen.
[12] Vgl. Horn (2013), S. 67: „Der Weg zur Knechtschaft ist ein hochgradig politisches Werk.“ Vgl. auch ibid., S. 76: „Hayek […] fühlt sich [seit dem »Weg zur Knechtschaft« – M.T.] ohnehin von der ökonomischen Theorie ermüdet und gibt seinen sozialphilosophischen Neigungen umso bereitwilliger nach […].“ Vgl. auch Batthyany (2007), welcher aus philosophischer Perspektive eine Einteilung des Hayek’schen Werkes vorlegt und dort die erste Werkphase Hayeks, um den „Weg zur Knechtschaft“ zentriert: Batthyany (2007), S. 7f.: „Hayeks Gesamtwerk wird in dieser Arbeit in vier Werkphasen unterschieden, (1.) dem Frühwerk (1925-1945) zentriert um das Buch ›Der Weg zur Knechtschaft‹, […]. (1.) Im Frühwerk beschäftigt sich Hayek neben der bewußtseinstheoretischen Forschung […] im populären Buch ‹Der Weg zur Knechtschaft› noch antithetisch mit sozialistischen Gesellschaftstheorien.“
[13] Vgl. Young-Bruehl (1982), S. 265 [Hervorhebung im Original]: „The Origins of Totalitarism wurde während der verzweifeltsten Zeit im Leben der Blüchers geplant. Die Nachrichten aus Europa in den ersten Monaten des Jahres 1943 waren unglaublich. Viele Jahre später erinnerte sich Hannah Arendt an die Zeit und an ihre Reaktion auf die Berichte über Hitlers Endlösung […]: Und erst haben wir es nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande [den Nazis – M.T.] alles zu. Dies aber haben wir nicht geglaubt, auch weil es ja gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war. Mein Mann ist ehemaliger Militärhistoriker, er versteht etwas von den Dingen. Er hat gesagt, lass dir keine Geschichten einreden; das können sie nicht mehr! Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen.“
[14] Vgl. Young-Bruehl (1982), S. 286: „[…A]rendt schrieb: »Ich hielt mich von der historischen Schriftstellerei im strengen Sinne fern, weil ich den Eindruck habe, dass diese Kontinuität nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Historiker seinen Gegenstand bewahren, der Sorge und Erinnerungen zukünftiger Generationen anempfehlen möchte. Historische Schriftstellerei in diesem Sinne ist letzten Endes immer Rechtfertigung dessen, was geschah«.“ Im Gegensatz dazu hielt Karl Jaspers das Werk für „Geschichtsschreibung großen Stils“, weshalb in dieser Interpretation Arendts Werk für eine historische Arbeit mit interdisziplinären Elementen gehalten wird, vgl. Jaspers (1955), S. 10.
[15] Eine Ausnahme bildet dabei Tormey (1995).
[16] Vgl. Fußnote 1.