Der Streit unter den Liberalen als Streit um Lebensstile
Der Streit unter den Liberalen als Streit um Lebensstile

Der Streit unter den Liberalen als Streit um Lebensstile

von Helmut Krebs

Die härtesten Auseinandersetzungen im weit gefächerten Lager des Liberalismus betreffen in starkem Maße den Bereich des Privatlebens und der öffentlichen Kultur. Der hochentwickelte Kapitalismus hat im Hinblick auf das Privatleben und die öffentliche Kultur zu einer kulturellen Revolution geführt. Wir rufen die sozialen Veränderungen kurz in Erinnerung, die die Hintergründe für den Streit bilden.

Kindheit: Durch das Sinken der Fruchtbarkeitsrate der Frau und wird das knapper gewordene Gut Nachwuchs wertvoller. Im Unterschied zu früher wird dem Kind sehr viel mehr Aufmerksamkeit von Erwachsenen zuteil. Es steht im Zentrum des Interesses und entwickelt mehr Ansprüche an andere als an sich. Während die allgemeine Leistungsbereitschaft in den Schulen sinkt, steigt die Furcht der Eltern, Fehler zu machen. Die sogenannte „Generation Y“ ist eine Metapher, in der der Mentalitätswandel der heutigen jungen Erwachsenen zum Ausdruck kommt. Sie zeichnet den Typ des antriebsschwachen Menschen, der planlos in die Zukunft blickt, furchtsam und zögerlich den Eintritt ins Erwerbsleben hinausschiebt. Die Anforderungen in den Schulen und Hochschulen werden gelockert; die zunehmenden Gymnasialquoten verstärken diese Tendenz.

Jugendzeit: Die Anforderungen einer hochentwickelten Gesellschaft an die Ausbildung der Erwerbstätigen verlängert die Ausbildungswege. Im 19. Jahrhundert trieb eine sehr kleine Minderheit männlicher Studenten ihr Unwesen in den wenigen Universitätsstädten der Länder. Wir haben heute eine große Zahl Studenten an vielen Massenuniversitäten, die von beiden Geschlechtern besucht werden. Heute leben Hunderttausende von jungen Männer und Frauen ohne alltägliche Sorge um den Broterwerb mehrere Jahre meist fern der Elternhäuser beieinander. Während früher typischerweise der vierzigjährige gereifte Mann die blühend junge Zwanzigjährige freite, leben heute die Geschlechter in Geschlechtsgemeinschaft über zehn bis zwanzig Jahre, wobei die Familiengründung auf die Mitte des Lebens verschoben wird. Das ist natürlich mit einem vergleichsweise hedonistischen Lebensstil verbunden, mit einem starken Interesse an Genusserlebnissen der Sexualität, der Drogen, durch Reisen. Dabei sind beide Geschlechter aktiv und selbstbestimmt.

Frauenleben: Durch die Befreiung der Frau von der Last des Kinderkriegens und der damit verbundenen Rackerei im Haushalt streben Mädchen in die akademischen Ausbildungswege und nehmen ihre Plätze im Erwerbsleben ein. Dieser Prozess ist aus heutiger Sicht  irreversibel. Die Frau ist im Umgang mit dem anderen Geschlecht selbstbewusst, aktiv und mit einem historischen Sendungsbewusstsein ausgestattet. Schon an den Schulen sind die Mädchen, begünstigt durch ihre raschere Reife, im Schnitt den Jungen ein wenig überlegen, wenig zwar, aber genug, um das weibliche Ego aufzupolieren. Dieses Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Präsenz der Frau schlägt sich nieder in den Medien, die sowohl den öffentlichen als auch den privaten Raum füllen. Songs und Filme üben einen stärkeren Einfluss als Eltern und Lehrer aus. Sie werden reichlich genossen und dienen der Bildung und Bekräftigung der Geschlechterrollen. Sie bilden mehr das Wollen und Sollen als das Sein ab. In den Medien sind Frauen dominant, vernünftig, mutig, erwachsen, kurz „männlich“ und Männer subdominant, emotional, kindlich, unverantwortlich, kurz „weiblich“. Männliche Figuren in Filmen und Romanen lassen den Frauen den Vortritt nicht aus Ritterlichkeit, sondern als Ausdruck einer normativen Unterordnung. Heute entwickeln Frauen ihr eigenes Sexualleben frei von Angst vor Schwangerschaft, Verlassenwerden und gesellschafticher Ächtung je nach Neigung mehr oder weniger monogam oder polygam ist. Sie genießen die eroberte Freiheit und sind nicht bereit, sie sich wieder nehmen zu lassen. Auch in die spätere Ehe werden Brüche der Monogamie nicht mehr nur von Männern eingebracht.

Senioren: Die Verlängerung der Lebenszeit durch die medizinischen Errungenschaften des Kapitalismus schafft eine zusätzliche Lebensphase, das Alter, die sich über Jahrzehnte ausdehnt. Die Senioren entwickeln ein kulturelles Eigenleben. Sie haben eigene Konsumgewohnheiten, entwickeln selbstbestimmte Aktivitäten auch in der Politik. Sie werden ein zunehmend gewichtiger Faktor, der das öffentliche Leben bestimmt. Auch sie entwickeln einen im Vergleich zu früheren Zeiten relativ hedonistischen Lebensstil, der sich an den Leitbildern der Jugendkultur anlehnt. Aus Rolling Stones wurden Rolling Gramps. Der dreiundsiebzigjährige Schauspieler, der sich einer Schönheitsoperation unterzieht, ist einen Aufmacher in der Boulevardzeitung wert.

Der moralische Wandel folgt dem Lebenswandel

Vor dem Hintergrund dieses sozialen Wandels breiter Schichten ändern sich die Moralvorstellungen der Massen. Was früher nur in der Oberschicht gelebt und ausprobiert wurde, hat inzwischen alle Schichten erreicht. Der Lebensgenuss ist heute unbeschwert von moralischen Skrupeln. Die Kirchen haben einen schwindenden Einfluss auf ihre Gläubigen und fast keinen auf die anderen. Die christliche Sexualfeindlichkeit wird verlacht und ignoriert. Enthaltsamkeit vor der Ehe ist ins kulturgeschichtliche Museum gewandert. Die Sexualität wird als Quell der Freude und Lust enttabuisiert und nach jeder Möglichkeit erkundet. Sexuelle Varianten wie Homosexualität, Gruppensex und Selbstbefriedigung werden nicht als moralische Fragen betrachtet, sondern unter dem Gesichtspunkt des Lustgewinns. (Hier einige eher zufällig Funde aus großen Tageszeitungen.1 2 3) Drogen spielen im Leben eine zunehmende Rolle. Der Konsum von leichten Rauschmitteln aus Hanf ist alltäglich geworden. Ihre Legalisierung mehrheitsfähig.

Das durch die Forderung nach Triebkontrolle geprägte moralische Leitbild des 19. Jahrhunderts wurde lebensweltlich weitgehend abgelöst durch ein permissives hedonistisches Leitbild in allen Schichten der Gesellschaft. Es entspricht den veränderten Lebensbedingungen einer langen Kindheit und Jugendzeit, die stark von den Peer-Groups und der Kulturindustrie und relativ schwach von Elternhaus und Schule, noch schwächer durch die Kirchen beeinflusst wird. Gleichzeitig ist die Leistungsbereitschaft im Erwerbsleben völlig ausreichend. Man unterschiedet Berufliches und Privates, man lernt, sich situativ angemessen zu verhalten. Der Banker wirft sich am Wochenende in die Motorradkluft und besucht ein Rockkonzert.

Ich spreche von moralischen Normen. Das tatsächliche Verhalten Jugendlicher und junger Erwachsener umfasst naturgemäß eine große Bandbreite an Möglichkeiten. Was sich praktisch geändert hat, sind die wirklichen Lebensverhältnisse.Die lange Adoleszenz (bis zum Ende des zweiten Jahrzehnts und darüber hinaus) wird gefüllt mit Erkundungen. Fast alle haben irgendwelche Erfahrungen gemacht. Daher wird es heute toleriert, wenn ein junge Frau pro Jahr drei oder vier Sexualpartner hat. Es gibt andererseits Überdruss an seelenlosemSex; verbreitet ist nach wie vor die Sehnsucht nach einerganz großen Liebe. Vor allem auf dem Hintergrund der hohen Scheidungsraten wird der monogamen Treue ein hoher Stellenwert beigemessen. Das Sexualleben der jungen Erwachsenen spiegelt sich in Spielfilmen, die ihnen einerseits Anregungen geben und andererseits auch wieder – bei allen Abstrichen – darüber berichten, was sie treiben. Das Leben der Jugend ist heute weitaus mehr durch Medien geleitet als früher.

Der Angriff des Konservatismus

In Deutschland haben sich die konservativen Milieus weitgehend aufgelöst. Die beschriebenen Veränderungen in der privaten Lebensführung haben nicht zur Versäulung der Gesellschaft geführt, weil dies festgefügte religiöse und moralische Lager voraussetzt. Sie sind in alle Milieus eingesickert und binden die gesamte Gesellschaft zusammen. Es gibt keine Polarisierung in ein liberales und ein konservatives Milieu. Wir leben in einem relativ homogenen Einheitsmilieu. Auch für aktive Christen ist der Sex vor und außerhalb der Ehe selbstverständlich geworden. Es gibt ein gemeinsames breites hedonistisches Milieu aller Schichten. Nur in Minderheiten und elitären Gruppen hält sich ein Kontrastprogramm.

Anders in den Staaten. Hier gibt es ausgeprägte und sich abgrenzende Milieus, in denen konservative Moralvorstellungen wenigstens nach außen vertreten werden und auch mehr oder weniger gelebt. Es gibt die Ostküste, Kalifornien, den Biblebelt, die Südstaaten. Es gibt traditionell demokratische und republikanische Staaten und einige wenige gemischte. Es wurde eine Art Kompromiss der konservativen Lebensvorstellungen mit den Bedürfnissen der Jugend in der Weise geschlossen, dass man ihnen zugesteht, vor der Ehe sich auszuleben, aber nach der Eheschließung strenge Monogamie einfordert. (Daher auch die Überhöhung der Hochzeitsfeier.) Durch die enge Verzahnung von Liberalismus und Konservatismus in den konservativ-republikanisch geprägten Mileus werden moralische Forderungen als solche des Libertarismus vorgetragen. Diese Strömung sickert nach Europa auch in die liberalen Kreise ein.

Auf dem Hintergrund der Einwanderung aus anderen Kulturräumen bilden sich in Deutschland angstbasierte Widerstände gegen den kulturellen Wandel. Es gibt Anzeichen für ein Wiederbeleben moralischer Restriktion in gewissen Strömungen, die teilweise auch in das liberale Lager hineinreichen.

Der kulturelle Wandel war immer von moralischen Auseinandersetzungen begleitet. Ein hedonistischer Lebensstil ist nicht frei von Enttäuschungen und Gefahren, weshalb er angreifbar ist. Aids- und Drogenkranke, Wohlstandsverwahrlosung sowie hohe Scheidungsraten und sinkende Geburtsraten sind die Kehrseite neuer Freiheiten.

Die Stellung des Liberalismus

Der klassische Liberalismus hat eine freie Marktwirtschaft, einen Minimalstaat und einen starken, durch Rechte geschützten und durch Eigentum fundierten Privatbereich im Blick. Das Private wird als Wert angesehen, das gegen staatliche Übergriffe zu schützen ist. Der Liberalismus sieht die Menschheitsentwicklung global und langfristig. Sein Fokus ist nicht auf ein Land und eine Epoche und schon gar nicht auf ein Milieu verengt. Er muss in Singapur ebenso gelten können wie in Berlin oder in Nigeria. Zu Fragen der persönlichen Lebensführung hat er keine Gebote und Verbote zu verkünden, die über die ewigen Rechtsprinzipien hinausgehen. Er lehnt es ab, dass die Menschen einer heteronomen Moral unterworfen werden. Sie handeln und leben als freie Verstandeswesen, und zwar als Individuen, moralisch autonom. Seiner Ansicht nach hat niemand erwachsenen Menschen Vorschriften zu ihrer Lebensweise zu machen, so lange sie nicht die Rechte anderer verletzt, vielmehr anderen Moralvorstellungen und Religionen Toleranz entgegenzubringen.

Die Diskussion um sexuelle Enthaltsamkeit, Monogamie oder Polygamie, Homosexualität, um Drogenkonsum usw. ist keine Diskussion um liberale Prinzipien. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen lebensweltlichen Entwürfen, deren Entfaltung der Liberalismus neutral gegenüber steht. Der Liberalismus ist nicht konservativ, er ist nicht permissiv, er ist nicht libertinär. Er verteidigt das Recht auf Selbstbestimmung.

Wohl vertritt er, dass die Familie eine besondere Rolle für den Erhalt der Menschheit und der gesellschaftlichen Kooperation spielt. Hierbei geht es ihm aber nicht um moralische Fragen, sondern um die biologischen und sozialpsychologischen Voraussetzungen der arbeitsteiligen Großgesellschaft, der sein Interesse gilt. In dieser Hinsicht, nicht aufgrund von Morallehren sieht er in stabilen Familien einen Wert. Er will die wirtschaftliche und rechtliche Stärkung der Familien durch die Senkung der Abgabenlasten und durch den Schutz des Privaten gegen den Einmischungen von außen.

Es ist nicht die Aufgabe des Liberalismus, Aussagen in Fragen zu machen, die Bereiche der Physik, Chemie oder Biologie betreffen. Er übernimmt in solchen Fragen wie der Homosexualität die Erkenntnisse der Biologie, die sich als die haltbarsten herausgestellt haben.

Es ist nur ein historischer Zufall, dass sich im Lager des Sozialliberalismus eine positive Haltung zur Liberalisierung der Lebensstile gebildet hat. Das liegt daran, dass dieser in kirchenfernen Milieus entstand. Es ist ebenso ein historischer Zufall, dass sich der Libertarismus den permissiven Lebensstilen gegenüber ablehnend verhält. Es liegt daran, dass er sich in den USA in kirchengebundenen Milieus entwickelte. Der Streit um die Lebensstile ist kein Streit innerhalb des Liberalismus, sondern einer zwischen unterschiedlichen Moralvorstellungen von Liberalen, die in unterschiedlichen Milieus leben. Er betrifft nicht die Kernfragen des Liberalismus. Es ist ein Streit der Lebensstile.