Der Staat ist kein irdischer Gott mehr
Der Staat ist kein irdischer Gott mehr

Der Staat ist kein irdischer Gott mehr

Ludwig Siep: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2015, 268 S., 49,00 Euro.

Wie souverän ist der Staat heute noch? Die lesenswerte gleichermaßen philosophiegeschichtliche wie aktuell relevante Analyse von Ludwig Siep behandelt die nachlassende Bedeutung der Absolutheit des Staates in der (Frühen) Neuzeit. Aus dem irdischen Gott, dem absoluten Staat, ist ein durch den Schutz der Menschenrechte gebundener Souverän geworden. Die in Bezug auf Hegel verfasste, aber über ihn hinausgreifende Erörterung spannt ein Panorama zum Thema Staat und Religion auf, dessen Lektüre über die fachspezifischen Fragen hinaus zu inspirieren vermag.

Der Münsteraner Emeritus für Philosophie geht in fünf Schritten vor. Die ersten vier Kapitel sind systematische philosophiehistorische Untersuchungen zu den Themen: „Souveränität und Individualrechte“ (I.), „Wohlfahrt als Staatsaufgabe“ (II.), „Sittliche Erfüllung im säkularen Staat“ (III.) und „Der Göttliche Staat und die Freiheit der Religion“ (IV.). Durchweg dienen Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Fichte (bis auf I.) und Hegel als Referenzphilosophen. Es folgt ein umfassendes, erörterndes Fazit: „Der säkulare Staat und die Rechte der Person nach dem Ende des ‚irdischen Gottes’“ (V.). In der Einleitung werden Fragestellung und Vorgehen der Untersuchung des neuzeitlichen Staates zwischen Sakralisierung und Säkularisierung entwickelt sowie einige Begriffe erläutert.

Das Vorwort beginnt mit dem Satz: „Das Thema Staat und Religion ist so alt wie die Philosophie.“ Im Schlusskapitel (VI.) greift Ludwig Siep dieses Faktum mit dem Hinweis auf, dass die Auseinandersetzung zwischen Staat und Religion keineswegs der Vergangenheit angehöre. Die tiefer reichende Bedeutung dieser brandaktuellen Aussage erschließt sich nach der Lektüre des Bandes besonders klar. Das liegt auch daran, dass der bemerkenswert weitreichende und langwierige Säkularisierungs- und Machtbindungsprozess zwischen Philosophie und Praxis vergegenwärtigt wird. Zusätzliche Bedeutung erfährt diese Entwicklung angesichts der geistigen und politischen Lage der Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika, wo Millionen flüchtende Menschen nicht abwarten, dass sich in ungewisser Zukunft vergleichsweise günstige Bedingungen wie im Westen entwickeln.

Es lohnt sich einige wesentliche Ergebnisse der Untersuchung kommentierend zu resümieren.

In Zentrum von Ludwig Sies Untersuchung steht die im Grunde zeitlose und fachwissenschaftlich übergreifende Frage, welchem Akteur respektive welcher Institution „das höchste Recht zuzuschreiben ist, Menschen auf die Einhaltung von Normen zu verpflichten“. Diese Frage ist offenkundig nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die politische Ökonomie sowie die Rechtswissenschaft in institutioneller Hinsicht bedeutsam, zumal alle drei Disziplinen auf einander bezogen sind. Die Antwort fällt letztlich ein wenig zirkulär aus: Es ist der Staat im Auftrag der Menschen. Die damit verbundenen tiefer reichenden staatstheoretischen und politikökonomischen Aspekte (Stichwort: Macht von Menschen über Menschen) bleiben ausgespart.

In der frühen Neuzeit bestand eine doppelte Herausforderung für die Staatsphilosophie; sie musste Vernunftrecht, Staat und Religion/ Kirche in ein tragfähiges Verhältnis setzen und die insbesondere gegenüber der Kirche gestärkte, zugleich von ihr gelöste Autorität begrenzen, um den Staat nicht zur Bedrohung der individuellen Rechte werden zu lassen. Der absolute Staat wurde dennoch im 20. Jahrhundert zum totalen Staat.

Während erste Aufgabe weitgehend gelungen ist, bleibt ein schmaler Grat zwischen unangefochtener Autorität des Staates zum Wohl der ihn bildenden Bürger einerseits und dessen anmaßender Herrschaft, die sich zuweilen in einer Bevormundung unmündigen Untertanen äußert (Paternalismus, „Nanny State“) andererseits. Ludwig Siep äußert sich diesbezüglich vorsichtiger, aber in diese, Sinne. Ein Schwerpunkt des Buches liegt zudem darauf, ob „die ‚göttlichen’ Prädikate, die der Staat der Neuzeit sich selbst zugelegt hat oder die ihm von Philosophen, Rechtsgelehrten und oft auch Theologen zugesprochen wurden, auf diese unbedingte Autorität des Staates begrenzt sind“. Im Anschluss daran geht Ludwig Siep der Frage nach, ob Staaten ohne transzendentale Gotteslegitimierung „zwangsläufig auch grenzenlos über die Rechte ihrer Bürger verfügen.“ Offenkundig ist diese Frage auch für die Diskussion zwischen Liberalen, Libertären und Anarchokapitalisten bei Forum Freie Gesellschaft und der Liberalen Debatte relevant.

Ludwig Siep betont, dass Hegel der Staatsidee der Aufklärung mit garantierten individuellen Rechten näher gestanden habe als dem „rechtsverneinenden Staat des Faschismus oder des Stalinismus“ und heute nicht mehr als Vorläufer des Totalitarismus gedeutet werden könne. Zudem verkörpere letztlich auch Kant mit seiner Idee des „höchsten Gutes“ die zugespitzte staatliche Souveränitätsidee. Allerdings sei Hegels Staat als unhintergehbarer und unbeschränkter Normensetzer mit absoluter Sittlichkeit gedacht. Diese säkularisierte Sakralität des Staates (sakral verstanden als durch einen Transzendenzbezug geschützte Unantastbarkeit) sei sowohl von Liberalen als auch Sozialisten und Christen kritisiert worden. Zugleich habe Hegel die wechselseitige Anerkennung von Individuen als Bedingung für Rechtsnormen zur Begründung privater Verfügungsrechte und sozialer Rechte begründet. Letztere ermächtigten den Staat zu Sicherungsmaßnahmen gegen Marktkräfte und Marktkrisen. In der Folge sei der hegelianischen Sakralisierung und Säkularisierung des Staates eine Sakralisierung der Person gefolgt, bei der der Staat zugleich Garant als auch Gefährder des Individuums sei. Die Sakralisierung des Staates habe der Entpolitisierung der Religion und Delegitimierung kirchlicher Macht gedient.

Bezeichnenderweise wurde im Namen der Rechte der Bürger sowohl die uneingeschränkte Autorität und Souveränität des Staates postuliert (Hobbes, Rousseau) als auch verworfen (Locke, Fichte). Mit dem Primat des Individuums stellen sich neue Fragen, darunter wie ein Staat beschaffen sein muss, um religiös neutral zu sein und durchsetzungsfähig, aber nicht absolut, um den Schutz der Rechte aller Bürger zu gewährleisten. Kant und Ficht hätten zur „Letztbegründung“ des Staates die Garantien der Rechte des Individuums und die Gewaltenteilung als Ausdruck der Vernunft entwickelt. Für Religionen stelle sich die Frage, wie sie mit der nunmehr autonomen Rechtsetzung des neutralen Staates und gleichen Rechten für alle Bürger vereinbar werden. Im Fall der katholischen Kirche ist das exklusive Priesterrecht für Männer ein offenkundiger Konflikt. Tatsächlich wird der Staat heute von Nichtregierungsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene sowie von supranationalen Institutionen wie der EU herausgefordert; bekanntlich ist das ein etabliertes Thema der Politikwissenschaft.

Inwieweit ein handlungsfähiger Staat eine „notwendige Bedingung persönlicher Freiheit und sozialer Rechte“ gegenüber „enorm angewachsenen Machtpotentialen der globalisierten ‚Märkte’“ bleibt, wird indes nicht ganz klar. Das gilt weniger für die postulierten sozialen Rechte, die letztlich Mindestwohlstandsforderungen und dementsprechend zweifelbehaftet sind, als vielmehr für die Macht von Märkten. An dieser Stelle macht sich das Defizit einer Makrophilosophie ohne dezidierte Mikrofundierung bemerkbar. Das gilt auch für die bewusst ausgelassene Definition des Staatsbegriffs. Dabei hätte es zum Entgottungsprozess gepasst, den Staat zunehmend als Staatsapparat mit handelnden Personen zu begreifen. Zugleich bleibt die Frage offen, wie Institutionen im Sinne von Verfassungen und anderen Rechtsregeln zu verstehen sind – als Komponente des Staates oder des vom Staat im Auftrag der Bürger errichteten Gefüges, zu dessen Schutz die Staatsvertreter berufen sind. Treffender erweisen sich für mich Bezüge auf die beiden Phänomene scheiternde Staaten und Wiederkehr der Religionen.

Ludwig Siep kommt zu dem Ergebnis, dass keines der von ihm diskutierten philosophiegeschichtlichen Konzepte für eine moderne pluralistische Gesellschaft ausreicht. Das gilt für ihn auch für das Konzept von Souveränität und Individualrechten, die in einer lesenswerten Erörterung nicht zuletzt von Kant und Hegel nachvollziehbar ist. In Variation des Buchtitels gilt: Der Staat ist heute kein irdischer Gott mehr. Sein Auftrag, der Schutz der Rechte der Menschen, und damit seine Souveränität, seien entziehbar. Der Versuch eine Staatsideologie zu entwickeln, sei gescheitert.
Im Grunde, ließe sich rückblickend profan bemerken, ist viel erreicht. Staat und Religion finden ihre Grenzen an den Rechten der Person und den Verfassungsprinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Die Essenz, der Daseinzweck des Staates, ist der Schutz der Rechte der Bürger, denen überdies ein Widerstandsrecht als wesentliche Grenzsetzung staatlicher Souveränität nach innen zusteht. Aus liberaler Perspektive ist es zu begrüßen, dass die Loyalität der Bürger die staatliche Souveränität schwächt und insbesondere der Wettbewerb zentrifugale Kräfte mit sich bringt. Anders als Ludwig Siep, aber im Einklang mit seiner Untersuchung, gleichsam als wegweisende Fortsetzung, erscheint der Wettbewerb um den besten Schutz der Bürgerrechte als geeignetes Entdeckungs- und Entmachtungsverfahren – nicht zuletzt um den Staat fortzuentwickeln. Das würde der immer noch, selbst in der westlichen Welt wirksamen metaphysischen Überhöhung von Institutionen und geistigen Kollektiven das Wasser abgraben. Mit den Worten von Ludwig Siep: „Wenn es um die ‚Ewigkeit’ des Staates geht, dann nur als permanenter Schutz der Rechte auch zukünftiger Staatsbürger.“

Die Begründung der Grund- und Menschenrechte hat der Münsteraner Philosoph noch skizziert. Da weder eine religiöse noch eine rein auf Vernunft beruhende Begründung in einem pluralistischen Staat in Frage komme, bleibe nur der Verzicht auf Letztbegründungen und religiöse Begründungen mit alleinigem Vertretungsanspruch. Seit Rousseau und Kant habe sich eine Autonomie des Menschen im moralischen und rechtlichen Sinne als Selbstgesetzgebung und Mitgesetzgebung entwickelt. Jeder sei demnach zugleich Gesetzgeber als auch gehorsamspflichtig. Durch die Verbrechen der totalitären Systeme seien die zuvor getrennten Menschrechte und die Menschenwürde mit einander verbunden worden. Aus dem normativen Wesen des Menschen sei seine unantastbare, nicht gegen Ansprüche oder Werte abwägbare Würde hervorgegangen. Zugleich lehrten gescheiterte Staaten, dass nur ein an Recht und Gesetz gebundenes Gewaltmonopol Bürger wirksam zu schützen vermöge. Heute gebe es für Menschenwürde, Menschenrechte, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gute philosophische Begründungen, die auch dann intakt blieben, wenn man sie von einer reinen oder absoluten Vernunft löse. Damit rückten anthropologische (und damit keine vollständig apriorischen) Begründungen, die mit historischen Erfahrungen verbunden seien, in den Vordergrund. Dazu gehörten die Fähigkeit des Menschen ,sich durch eigene Einsicht an gemeinsame Normen zu binden, aber auch die Tatsache der Verletzlichkeit, des Selbstbewusstseins oder „Würdebedingungen“. Indes seien trotz der historisch entstandenen und nicht letztbegründeten Menschenwürde und Menschenrechte, die nicht lediglich Resultat von (kulturbedingten) Konventionen seien, derzeit weder Alternativen gedacht noch gewollt. Man könne daher „von einer Irreversibilität der Menschenrechte sprechen, die sich auf kollektive historische Erfahrungen und gute prinzipielle Begründung stützt.“ Mehr sei weder notwendig noch möglich.

Mit diesem Diktum endet eine gelehrte philosophiegeschichtliche Untersuchung, die zugleich Ausgangspunkt für Erörterungen, Widerspruch und Erweiterungen sein kann. Ohne das an dieser Stelle auch nur hinreichend andeuten zu können, sei auf die konstitutionelle Dimension hingewiesen, die das Verhältnis Staatsapparat und Bürger detaillierter ausgestalten würde. Meine Empfehlung lautet Richard A. Epstein, der als amerikanischer Verfassungsexperte und „Libertarian“ im besten Sinne dazu viel beizutragen hat. In philosophiegeschichtlicher Perspektive lohnt es sich, die klassisch liberale Traditionslinie fortzusetzen. Das geht nicht ohne den zwischenzeitlichen Höhepunkt der Sozialphilosophie von Ludwig von Mises (Praxeologie, Human Action) und der von Henry Hazlitt ausformulierten Moralphilosophie des Kooperatismus. Für das Verhältnis von Ordnung, Recht und Freiheit bleibt Friedrich August von Hayek unverzichtbar. In politikökonomischer Perspektive gilt es die Public Choice Theorie zu berücksichtigen – anschließend sollte jedwede staatliche Überhöhung unglaubwürdig werden. Schließlich sei ein zeitgenössischer Philosoph empfohlen, der tiefgründige Einsichten zum zu den Themen Staat und Politik bietet, Anthony de Jasay. Diese Anregungen bilden indes bereits eine Brücke zu einem eigenständigen Forschungsfeld.

Michael von Prollius