Der säkularisierte und subjektivierte Naturrechtsbegriff  bei Hugo Grotius
Der säkularisierte und subjektivierte Naturrechtsbegriff bei Hugo Grotius

Der säkularisierte und subjektivierte Naturrechtsbegriff bei Hugo Grotius

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von Andreas H. Aure1, zusammengefasst und mit Anmerkungen versehen von Helmut Krebs

 

„Es ist durchaus wahr, dass alles schwankt, wenn einmal vom Recht abgegangen wird.“ (Proleg. 22)

Einleitung

Der holländische Naturrechtsdenker Hugo Grotius (1583–1645) kann als ein zentraler Vorläufer der Aufklärung und als ein Wegbereiter der Entwicklung der Theorie über subjektive oder individuelle Rechte gelten. Grotius kam mit elf Jahren an die Universität und war mit 16 Jahren Rechtsanwalt. Sein literarisches Werk umfasst neben seiner umfangreichen Briefkorrespondenz mehr als hundert Titel in Prosa und Lyrik. Als sein berühmtestes Werk gilt De Iure Belli ac Pacis, das Grotius unter dem Schutz des französischen König Ludwigs XIII. schrieb, nachdem ihm auf spektakuläre Weise die Flucht aus seiner politischen Gefangenschaft in Holland gelungen war. Es gibt mehr als 120 Ausgaben dieses Werkes und es ist in 12 Sprachen übersetzt worden. Der schwedische König Gustav Adolf II. trug es bei seinem Feldzug während des Dreißigjährigen Krieges bei sich. Grotius trat in den Dienst Schwedens und diente als Botschafter in Frankreich. Er kann als der herausragende Rechtsphilosoph des kontinentalen Protestantismus betrachtet werden. Auf ihn stützten Pufendorf, Hobbes und Thomasius ihre Lehren.

Sein Rang als Frühaufklärer lässt sich insbesondere auf zwei bedeutende Eigenschaften des von ihm geprägten Naturrechts zurückzuführen:

  • einerseits sein Beitrag, das Naturrecht zu säkularisieren,

  • andererseits seine Theorie über den subjektiven oder individualisierten Naturrechtsbegriff als Kern des Naturrechts.

Grotius sucht die Begründung für das Naturrecht in den Eigenschaften der menschlichen Natur.2 Diese Eigenschaften sind die dem Menschen innewohnenden Wünsche nach Selbsterhaltung und Soziabilität, also der Wunsch friedlich mit seinen Mitmenschen zusammenzuleben (Proleg. 4–6 )3. Darüber hinaus zählen dazu die einzigartige Fähigkeit des Menschen zu Sprache und Vernunft.4

„Der Schöpfer der Natur wollte, dass wir als Einzelne schwach seien und zum rechten Leben vieles bedürfen, damit wir desto mehr zur Pflege der Geselligkeit angetrieben werden.“ (Proleg. 16)

Dass moralische Rechte universell sind und rational begründet werden können – auf der Basis von Studien der Wirklichkeit, wie es in der Naturrechtstradition getan wird, wird von den meisten Rechtstheoretikern unserer Zeit bestritten.5 Der Rechtspositivismus behauptet, dass Recht im Prinzip nichts anderes sein könne, als diejenigen Vorschriften, die der Staat erlässt um sie mit Gewalt durchzusetzen.6

Das Neuartige an Grotius’ Naturrechtstheorie

Hugo Grotius war der erste protestantische Gelehrte, der eine auf weltlich philosophischer Basis beruhende umfassende und einheitliche Naturrechtstheorie mit einer Theorie über eine starke staatliche Souveränität kombinierte.

„Der Staat ist eine vollkommene Verbindung freier Menschen, die sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben.“ (I,i,XIV)

Grotius unterscheidet zwischen der natürlichen menschlichen Gesellschaft/Bruderschaft und dem Staat und sieht den Staat als Menschenwerk an.7 Sein vielleicht herausragendster Beitrag war, dass er den damaligen Ideen von Recht eine explizit philosophisch-anthropologische Grundlage gab, bei der er auf die gemeinsame naturrechtliche Basis der verschiedenen Rechtsbereiche hinwies.

Die wichtigsten Pfeiler von Grotius’ Naturrechtsphilosophie können wie folgt beschrieben werden:

  1. Der Mensch kann das Naturrecht allein durch seine Vernunft erkennen.8

  2. Das Naturrecht kann unabhängig von Gottes Willen oder Gottes Existenz sowohl erkannt werden als auch verpflichtend sein.9

  3. Das unveränderliche, vernunftgesteuerte Naturrecht und das willensgesteuerte (positive) Recht sind prinzipiell gesehen verschiedene Dinge. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Recht, das sich aus der Natur und aus der Vernunft ableiten lässt, und dem Recht, das seinen Ursprung im Willen eines Wesens hat, sei es nun göttlicher Wille oder menschlicher Wille.10 Die Prinzipien des Naturrechts sind unveränderlich und können leicht in ein System eingebracht werden. Dahingegen entziehen sich die Regeln des willkürlichen einem solchen System, weil sie veränderlich sind. Das willkürliche Recht ist aufgeteilt in das Völker- oder das zwischenstaatliche Recht und das Recht jeder einzelnen Gesellschaft (Zivilrecht).

  4. Der Kern des Naturrechts ist, wie dieser Beitrag zeigen wird, Recht im eigentlichen Sinne, verstanden als moralische Qualitäten oder Eigenschaften, die jedem einzelnen Menschen eigen sind.

Grotius’ Methode

Grotius war Humanist. Er war Teil dessen, was man als intellektuelle Tradition der Renaissance bezeichnen kann, die ad fontes, zurück zu den Quellen wollte. Man suchte die Ideale des Altertums. Aristoteles, Stoizismus, Cicero und das Römische Recht bildeten für Grotius die wichtigsten Quellen der Inspiration.11

Grotius versuchte, das Naturrecht entweder a priori oder a posteriori zu beweisen, ersteres basierend auf dem was man weiß bevor man eine Erfahrung macht und letzteres basierend auf denjenigen Schlussfolgerungen die aus der Erfahrung entnommen werden können. Die Unterscheidung zwischen dem apriorischen und aposteriorischen Naturrechtsbeweis gründet auf seiner Rezeption der klassischen Rhetorik.

Grotius benutzt beide Methoden in seinem Denken. Er stellt manche Ideen a priori als unbestreitbar wahr auf, z.B. dass der Mensch ein rationales Wesen ist, das sich ein friedliches Zusammenleben mit seinen Artgenossen wünscht, und leitet gewisse andere Prinzipien daraus ab.12

Grotius sagt in seiner Prolegomena, dass einzelne fundamentale Verhältnisse, die das Naturrecht berühren, so sicher sind, dass niemand sie verleugnen kann, „ohne sich selbst Gewalt anzutun“. Die Naturrechtsprinzipien, so Grotius, seien fast gleichermaßen einleuchtend wie die Sinneswahrnehmungen. Es sind nicht die Zeugnisse an sich, die Beweiskraft haben. Grotius verdeutlicht, dass man ihnen nicht blind vertrauen soll, denn sie dienten ja in der Regel ihrer Sekte, ihrem Thema oder ihrer Sache. Wenn viele das gleiche behaupten, ist es vielmehr wahrscheinlich, dass die Behauptungen oder Schlussfolgerungen, über die Einigkeit herrscht, eine universelle Ursache zugrunde liegt. Solch eine Art Konsens dient zunächst als induktiver Beweis für Grotius’ eigene vernünftige Beurteilung (a priori) für das, was aus den Prinzipien des Naturrechts abgeleitet werden kann. Außerdem ist ein solcher Konsens ein Indiz für ein richtiges Verständnis der Natur einer Sache (die universelle Ursache). Und je größer der Konsens ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das angenommene Prinzip wahr ist.

Die säkularisierende Kraft bei Grotius

Grotius vertrat eine unabhängige, „minimalistische“ Religiosität, die den Fokus auf Ethik und einige wenige Glaubensartikel legte, von denen Grotius sich erhoffte, dass alle Menschen darüber einig seien und die deshalb dazu geeignet wären, die Kirche wieder zu vereinigen. Um das Ausarten theologischer Streitigkeiten zu verhindern, war Grotius der Ansicht, dass der Staat in allen wesentlichen Kirchenfragen die oberste Autorität sein solle.13 Er versuchte, zwischen den verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen eine Brücke zu schlagen.14

Im Licht seiner Theorien und der Zeit, in der er lebte, ist er als ein großer Säkularisierer einzustufen. In jedem Fall hatten seine Gedanken einen stark säkularisierenden Effekt. Gottes Existenz war für Grotius unumstritten. Selbst wenn Gott der Ursprung der Natur ist, ist seine Existenz nach Grotius keine notwendige

Voraussetzung, weder für die Existenz des Naturrechts noch für dessen bindenden Charakter. Grotius’ Definition des Naturrechts als eine Anweisung der Vernunft, inwieweit eine Handlung moralisch zu tadeln oder notwendig sei, steht logisch auf eigenen Beinen und benötigt keine göttliche Beteiligung.

Grotius erklärt, dass das Naturrecht eine eigene Rechtsdisziplin sei, unabhängig vom göttlichen Recht. Um dies weiter zu unterstreichen sagt er an anderer Stelle, dass das Naturrecht auch dann gelten würde, wenn man annehmen würde, dass Gott nicht existiert:

„Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme (was freilich ohne die größte Sünde nicht angenommen werden kann) dass es keinen Gott gäbe oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere.“ (Proleg. 11)

Die Vernunft allein ist ausreichend, um nicht nur den Inhalt des Naturrechts zu erkennen, sondern auch die Verpflichtung, im Einklang mit ihm zu leben. Für Grotius ist somit nicht länger der Schöpfer der Natur, sondern die Natur selbst der Ursprung der Rechtsordnung. Das Naturrecht wird unabhängig vom göttlichen Recht erkannt und kann durch letzteres auch nicht verändert werden.

„Das Naturrecht ist so unveränderlich, dass es selbst nicht von Gott verändert werden kann.“ (I,i,X,5)

Diese Trennung drückt den klaren Wunsch aus, das Recht auf einer von der Theologie unabhängigen Basis aufzubauen. Es ist bemerkenswert, dass Grotius ausdrücklich die Praxis, das göttliche Recht, sei es das Alte oder das Neue Testament, mit dem Naturrecht zu identifizieren, ablehnte.

Die kulturellen Veränderungen und die Konflikte der Protestanten mit den Katholiken, kombiniert mit den Bestrebungen der Fürsten nach Machtausweitung, erreichten ihren Höhepunkt mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648). Das Hauptmotiv, warum Grotius begann, sich mit De Iure Belli ac Pacis zu befassen war jedoch die Existenz von universellen Rechtsprinzipien aufzuzeigen, die im Interesse der Menschheit gewalttätigen Konflikte mildern und ihnen vorbeugen konnten.

„Ich habe viele und wichtige Gründe gehabt weshalb ich mich entschied, darüber zu schreiben. Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten. Man greift aus unbedeutenden oder gar keinen Gründen zu den Waffen, und hat man sie einmal ergriffen, so wird weder das göttliche noch das menschliche Recht geachtet.“ (Proleg. 28)

Das von Grotius identifizierte Rechtssystem, sollte unabhängig von Glaubensrichtungen gelten, ja, es hätte Geltung sogar für Ungläubige und Heiden. Denn Grotius’ Denken ist eine Antwort auf alle Formen von religiösem Fanatismus. Sowohl seine Theologie als auch sein Naturrecht beinhalteten eine Aufforderung zum Pluralismus.15 Menschen sollten nämlich auf die Weise leben können, die sie bevorzugen – soweit die Rechte anderer dadurch nicht betroffen sind:

„Es ist … nicht gegen die Natur der Gemeinschaft, für sich zu sorgen und zu schaffen, solange die Rechte anderer dadurch nicht verletzt werden.“ (I,ii,I,6)

„[Es gibt] viele Lebensweisen, die eine besser als die andere, und aus allen diesen steht es jedem frei die Lebensweise zu wählen, welche ihm gefällt.“ (I,iii,VIII,2)

Diese Gedanken dürften als sehr bedeutsame Anfänge einer Säkularisierung und Verschiebung des Staatszweck vom bonum commune (Gemeinwohl) zum libertas (Freiheit) eingestuft werden. Und solche Anschauungen waren kaum dazu geeignet, bereits erhitzte Gemüter besonders in geistlichen, einschließlich lutheranischen und calvinistischen, Kreisen zu beruhigen – De Iure Belli ac Pacis wurde z.B. unmittelbar auf den päpstlichen Index verbotener Bücher gesetzt. Das Verbot wurde erst 1900 aufgehoben, nachdem dies zur Forderung dafür erhoben worden war, dass der Vatikan an der Friedenskonferenz in Haag teilnehmen durfte.

Grotius ging im De Iure Belli ac Pacis auch mit zwei Widersachern der Idee des Naturrechts ins Gericht: dem Skeptizismus, der Grotius durch Karneades, den Leiter der Dritten Akademie Athens, vertreten ließ, und dem Machtrealismus, später zumeist als raison d’etat bekannt, der von Machiavellisten repräsentiert wurde. Grotius beschreibt auch die Gefahr des Pazifismus, den, so meinte er, auch Erasmus von Rotterdam vertrat. Machiavellisten und Erasmus repräsentierten für Grotius zwei unhaltbare Extreme auf seiner Suche nach einem gangbaren dritten Weg, so dass Menschen „nicht glauben würden, dass entweder nichts erlaubt ist oder alles erlaubt ist“. (Proleg. 29)

Die Quelle des Naturrechts

Grotius kritisierte die Vermischung unterschiedlicher Rechtstypen durch die Römer und machte es sich zur Aufgabe, ein Rechtssystem aufzuzeigen, bei dem deutlich zwischen den Rechtstypen unterschieden wird. Während die Römer in Folge ihrer Vermischung von jus naturale (Naturrecht) und jus gentium (Privatrecht, das international angewandt wurde) damit zögerten, das jus gentium und sogar das jus civile (Recht jeder einzelnen Gesellschaft ) als positives Recht zu kategorisieren, war Grotius sicher, dass sowohl das jus gentium als auch das jus civile Formen des positiven Rechts waren bzw. jus voluntarium (Recht, das seinen Ursprung im Willen eines Menschen hat). Diese waren abhängig vom menschlichen Willen oder der allgemeine Zustimmung und ihr Inhalt war veränderlich. Das Naturrecht hingegen ist unveränderlich und immer gleich.

Grotius versucht, das Naturrecht als etwas spezifisch Menschliches darzustellen. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Tier und Mensch ist der menschliche Soziabilisierungsdrang, also der dem Menschen innewohnende Wunsch, in friedlicher und geordneter Gesellschaft mit seinen Artgenossen zusammenzuleben. Grotius zu Folge würde der Mensch auch dann noch Gesellschaft suchen, wenn es ihm als alleinstehendem Individuum an nichts fehlen würde. Denn der Mensch ist allein schwach und benötigt viele Dinge. (Proleg. 16) Dieser Drang nach Gesellschaft und Frieden wird unterstützt durch die menschlichen Fähigkeiten zu sprechen, allgemeine Regeln zu verstehen und nach ihnen zu handeln. Über diese Fähigkeiten verfügt nur der Mensch allein.

„Nur ein Wesen, was allgemeine Vorschriften versteht, ist des Rechts im eigentlichen Sinne fähig. … Cicero sagt … : ,dass man bei Pferden und Löwen von Gerechtigkeit nicht spreche‘.“ (I,i,XI.1)

Laut Grotius bildet dieser dem Menschen innewohnende Wunsch nach Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung in Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunft die wirkliche Quelle des Rechts.16 Um eine soziale Ordnung aufrecht zu erhalten, sind die klassischen Rechtsnormen notwendig:

  • dass man sich des fremden Guts enthält und es ersetzt, wenn man etwas davon besitzt oder genommen hat,

  • ferner die Verbindlichkeit, gegebene Versprechen zu erfüllen,

  • der Ersatz des durch unsere Schuld veranlassten Schadens und

  • die Wiedervergeltung unter den Menschen durch die Strafe. (Proleg. 7)

Sowohl die Soziabilität als auch die Vernunft sind essentielle Eigenschaften der menschlichen Natur. Es liegt in der Natur, d.h. in der menschlichen Soziabilität und Vernunft, sich durch Recht und rechtsähnliche Regeln lenken zu lassen. Daher nennt Grotius die menschliche Natur „die Mutter des natürlichen Rechts“.

Hiervon ausgehend sei es ein Fehler, wenn Karneades und andere, als universelle Wahrheit ausgedrückt, behaupteten, dass der Mensch einen natürlichen Drang hat, nach eigenem Nutzen auf Kosten anderer zu streben. Diejenigen, die das behaupten, haben Grotius zufolge wesentliche eigentümliche menschliche Eigenschaften übersehen.

Grotius greift kritischen Einwänden von denjenigen vor, die meinen, dass der Mensch durchaus nicht immer ein rationales und soziables Wesen sei, indem er sich unter anderem auf Aristoteles beruft: „Was naturgemäß ist, muss man nach denen bestimmen, die sich natürlich verhalten, und nicht nach denen, die schlecht geworden sind.“ (I,xii, zitiert aus Aristoteles’ Politik, Buch I, Kap. 5)

Der Kern des Naturrechts

Staat

Der Staat ist bei Grotius idealtypisch und historisch „eine vollkommene Verbindung freier Menschen, die sich des Rechtsschutzes und des Nutzens wegen zusammengetan haben“, ( I,i,XIV) denn „die Gesellschaft ist deswegen errichtet, damit durch gemeinsame Kraft und im Zusammenwirken, der Rechtsbereich von jedem unverletzt bleibt.“ ( I,ii,I,6)17 Man kann daher behaupten, dass der Staat bei Grotius eine Funktion der Individuen ist, aus denen er besteht, und dass er zunächst einmal nicht mehr Macht oder Autorität hat als die Individuen ihm gegeben haben.18 Dafür dass der Staat das Recht des Einzelnen beschützt, ist der Bürger im Gegenzug dazu verpflichtet, sich den Gesetzen und Befehlen der Obrigkeit unterzuordnen.19

Ungerechtigkeit sieht er als etwas an, das mit einer Gesellschaft von rationalen Wesen widerstreitet. Hierin liegt die Verpflichtung, nichts zu tun, was den Gesellschaftsfrieden gefährdet. Damit sind solche Dinge wie nicht zu stehlen, keine Absprachen zu brechen und es nicht zu unterlassen, diejenigen zu bestrafen, die das Recht verletzen, gemeint. Grotius definiert Gerechtigkeit als Verpflichtung, es zu unterlassen, in die Rechtssphäre von anderen einzugreifen. Dies zu erlauben würde die menschliche Gesellschaft und Bruderschaft zerstören.

Gerechtigkeit

Um das Prinzip des Unrechts oder dessen, was im Widerspruch zu einer Gesellschaft mit rationalen Wesen zu stehen scheint, zu konkretisieren, beschreibt Grotius jus (Recht) als eine Eigenschaft, die direkt an die Individuen geknüpft ist. In dieser auf das Individuum orientierten Bedeutung von jus liegt der innovative Kern des Naturrechts. Diese Formulierung von natürlichem Recht unterscheidet er von dem, was er justitia attributrix nennt, d.h. distributive/attributive Gerechtigkeit. Denn

„viele haben schon einst dies [kluge Verteilung] zu einem Teil des Rechts im eigentlichen und strengen Sinne gemacht, als doch dieses Recht im eigentlichen Sinne eine ganz andere Natur hat. Diese Natur besteht darin, dass man das, was schon jemand gehört, in Ruhe lässt, oder das was man schon jemand schuldet, erfüllt.“ (Proleg. 10 )

Die am Individuum orientierte oder subjektivierte Formulierung des Naturrechts, d.h. die moralische Qualität, die eine Person innehat, um etwas berechtigterweise zu haben oder zu tun, baut auf zwei unterschiedliche Typen von Gerechtigkeit – nämlich der attributiven oder der expletiven Gerechtigkeit. Beide entsprechen den aristotelischen Begriffen von der distributiven, respektive der wiederherstellenden Gerechtigkeit. Die distributive Gerechtigkeit beinhaltet z.B., dass jemand, der eher einer Auszeichnung würdig ist, oder für eine Stellung geeignet ist, einen höheren Anspruch auf eine solche Ernennung hat, als jemand, der weniger würdig oder geeignet ist. Wiederherstellende Gerechtigkeit bedeutet z.B., dass Eingriffe in die legitime Verfügungssphäre einer Person durch Ersatz und Strafe geschützt werden können. Aus der attributiven Gerechtigkeit folgert bloß ein potentialer, moralischen Anspruch oder ein Billigkeitsanspruch ohne die Möglichkeit der Zwangsvollstreckung, während mit der wiederherstellenden Gerechtigkeit, ausgedrückt als justitia expletrix, eine solche Zwangsmacht folgt.

Grotius unterscheidet zwischen dem Anspruch, den der beste Flötenspieler an die beste Flöte hat in Bezug auf die attributive Gerechtigkeit und den Anspruch, den der Flötenbesitzer in Bezug auf die vollkommene Gerechtigkeit (justitia expletrix) hat. Selbst wenn der beste Flötenspieler eine Art Recht hat – so z.B. dass es das beste oder passendste wäre, wenn der beste Flötenspieler das beste Instrument besitzt – ist es schwierig nachzuweisen, dass eine andere Person eine konkrete Verpflichtung hat dafür zu sorgen, dass der beste Spieler die beste Flöte erhält.

Grotius sucht eine Begründung für die justitia expletrix, indem er zurückschaut auf etwas, das eine legitime Verfügungssphäre im Naturzustand gewesen sein müsste. Ein jeder würde dann, laut Grotius, den Anspruch auf Schutz von Leben, Freiheit und Nutzung von besitzlosen Naturressourcen haben. Die Gesellschaft ist gebildet worden, um diese ursprüngliche Verfügungssphäre zu beschützen:

„Die Gesellschaft ist deswegen errichtet, damit, durch gemeinsame Kraft und im Zusammenwirken, die Rechtssphäre von jedem unverletzt bleibt. Dies würde offenbar auch stattfinden, wenn das Eigentum, wie man es jetzt versteht, nicht eingeführt wäre. Denn das Leben, die Glieder und die Freiheit würden auch dann jedem zu eigen gehören, so dass sie nicht ohne Unrecht von einem anderen angetastet werden könnten.“ (I,ii,I,5 und II,xvii,II )

Ein anderes Beispiel, das diesen Punkt näher beleuchtet, bilden die Streitigkeiten, denen eine Gesellschaft ausgesetzt sein könnte, wenn beispielsweise jemand, der meint, er sei am besten geeignet Staatschef zu sein – oder ist es auch tatsächlich – und solle auch das Recht haben, dies zu erzwingen. Es würde dieser Person das Recht auf eben diese Stellung geben, unabhängig davon, inwieweit andere innerhalb der Gesellschaft denjenigen als Staatschef wollen oder mögen.

Es ist einleuchtend, dass eine erzwungene Handhabung des jus attributrix unkontrollierbar wäre und ins Chaos oder zu unendlichen Interessenskonflikten führen würde. Daher fällt die Tatsache, dass eine Person eine Sache oder eine Position verdient in Bezug auf die attributive Gerechtigkeit, in einen Bereich, der außerhalb des vollständigen oder perfekten Rechts liegt.

Doch das Wesentliche ist, dass diese Gerechtigkeit nicht mit den Rechten einer anderen Person in Konflikt gerät. Das würde dazu führen, dass das Recht im eigentlichen Sinne seinen absoluten Charakter verliert, was wiederum den sozialen Frieden gefährden würde. Eine rechtliche Handhabung der attributiven Gerechtigkeit den Menschen untereinander würde auch der Voraussetzung für die Staatsbildung widersprechen, die ja gerade der Schutz des Rechts ist.20

Recht

Das Eigentumsrecht ist laut Grotius in stillschweigender Übereinkunft eingeführt worden, weil die Menschen die Vorteile dieser Lebensform im Vergleich zu dem Zustand der vorstaatlichen Lebensformen bestehend aus undefinierten Nutzungsrechten einsahen. Selbst wenn das Eigentumsrecht durch den menschlichen Willen eingeführt worden ist, so ist die Institution an sich vorstaatlich und hat ihre naturrechtliche Sanktion und ihren naturrechtlichen Schutz. Grotius schreibt, dass der Mensch das gleiche Recht auf sein Habe wie auf seine Handlungen hat.

Jus im eigentlichen und rechtlichen Verstand umfasst danach laut Grotius’ eigener Auflistung:

  • Das Recht über einen selbst, das Freiheit genannt wird, oder das Recht über andere, wie es ein Vater über seine Kinder hat oder ein Herr über seine servos;

  • Eigentumsrechte, die mehr oder weniger vollständig sind wie Nutzungs- oder Pfandrechte;

  • Forderungsrechte, die die Schuldigkeit eines anderen etwas zu leisten oder zu erdulden widerspiegelt.21

Recht im eigentlichen und rechtlichen Sinne umfasst für Grotius also nicht jede Form von Gerechtigkeit oder Tugend, sondern nur die Gerechtigkeit, die für den Schutz der Gesellschaft nötig ist. Der Schutz oder Aufrechterhaltung der Gesellschaft ist die Quelle der vollständigen Gerechtigkeit oder des Rechts im eigentlichen Sinne.

Und dieser Typus Gerechtigkeit ist eine Eigenschaft oder Qualität bei Personen und etwas, das einer Person innewohnt, kraft ihres Menschseins. Der Kern im Naturrecht ist damit nicht länger das objektive Recht oder ein rechtmäßiger Zustand. Nach Grotius stellen die moralische Qualitäten den Ursprung des Rechts dar und nicht umgekehrt das objektive Recht den Ursprung für die Qualitäten. Damit hat er seinen einzigartigen Wechsel vom objektiven zum subjektiven Recht vollzogen.

Grotius ist nahe daran zu sagen, dass Recht bloß bedeutet, die Rechte anderer zu respektieren. Das Recht auf Leben, Glieder und Freiheit, die mit dem Begriff suum (das Seinige) zusammengefasst sind, werden so als persönliche Attribute verstanden, die allen und jedem gehören, außerhalb und unabhängig von welcher Gesellschaft auch immer.22 Er gibt dem jus eine Form und einen Inhalt, was spätere bedeutende Naturrechtsdenker wie Samuel Pufendorf und insbesondere John Locke weiterentwickelten und verkündeten, und die zusammen in hohem Maße die amerikanischen Revolutionäre und viele europäische Bürgerrechtsbewegungen inspiriert haben.

Grotius’ Subjektivierung des Naturrechts in der Form ius proprie aut stricte dictum (richtig oder korrekt im engeren Sinne), sollte als die prägnanteste und kraftvollste Quelle des modernen Begriffs des subjektiven Rechts angesehen werden. Jus im eigentlichen Sinn bedeutet nur die Verpflichtung, das, was schon jemandem gehört, unberührt zu lassen, und das, was man schon jemandem schuldet, zu erfüllen, d.h. justitia expletrix.23 Zusammen mit der Trennung des Rechts von der Theologie, ist der subjektive Begriff des jus, verstanden als durchsetzbare Individualrechte, vielleicht sein wirkungsvollster ideen- und rechtsgeschichtlicher Beitrag.

Naturrecht als rectum

Grotius gibt überdies eine dritte Bedeutung des Naturrechtsbegriffes, bei dem Verpflichtung als entscheidendes Element in naturrechtlichen Normen aufgezeigt wird. Rectum ist die Verpflichtung zur Tugend, zur Rechtschaffenheit.24 Recht in diesem Sinne umfasst nicht bloß die hier behandelte Gerechtigkeit (das zu unterlassen, was die Rechte anderer verletzt), sondern auch andere Tugenden.

Recht in diesem erweiterten Sinne beruht auf der menschlichen Fähigkeit, beurteilen zu können, was das Überleben auf kurze und längere Sicht fördert oder hindert.25 Es umfasst auch Tugenden wie Mäßigung, Mut, Klugheit, Wohltätigkeit, falls die aktuelle Tugend eine Verpflichtung beinhaltet. (II,i,IX,1) Diese Verpflichtung kann sowohl bloß eine moralische (Verpflichtung ohne Zwang oder diesseitige Sanktion) oder auch eine positiv-rechtliche (mit Zwang) Basis haben.

Hier gilt es, dass das Naturrecht im weiteren Sinne, formuliert als lex oder rectum, eine präzisere und verständlichere Begründung für die Gehorsamspflicht verleiht. Die eigentliche Begründung für die Verpflichtung (oder Notwendigkeit) zu gehorchen gründet sich nämlich auf andere lebensfördernde Tugenden (wie Mäßigung) oder Wertebetrachtungen (wie, dass das geringere von zwei Übeln zum Guten wird) – solche Moralprinzipien sollten manchmal bevorzugt werden anstatt auf reinen Gerechtigkeitsprinzipien zu beharren.

Einordnung

Es ist richtig, dass sowohl Grotius als auch Hobbes, Thomas von Aquins Schema von rechtsgenerierenden natürlichen Neigungen umwälzen und vereinfachen. Aber wo Grotius das Naturrecht wie Thomas von Aquin auf die menschliche Soziabilität gründet, basiert Hobbes’ Theorie auf der menschlichen Neigung zur Selbsterhaltung, die der Mensch mit allen anderen Wesen gemein hat. Hobbes’ Version des Naturrechts ist ein markanter Bruch mit der aristotelischen Tradition innerhalb der politischen Philosophie bzw. der Rechtsphilosophie. Grotius hingegen modifiziert sowohl Aristoteles selbst als auch die aristotelische Tradition in hohem Maße, bleibt aber dennoch innerhalb einer aristotelischen Einflusssphäre.

Für Grotius ist Naturrecht zunächst einmal die Fähigkeit, in Übereinstimmung mit dem Respekt für die Gesellschaft und dem subjektiven Recht der Bürger zu handeln. Die rationale und gesellige Natur des Menschen ist die Grundlage für dieses Recht. Darüber hinaus sieht Grotius Verpflichtung als eine definierende Charakteristik des Rechts. Hobbes jedoch nimmt als Ausgangspunkt das Recht oder die Freiheit, die ein Mensch in einem Naturzustand hat, mehr oder weniger alles, was er möchte, zu machen – ein Recht ohne irgendeine korrespondierende Verpflichtung (vor der Bildung eines Gesellschaftsvertrages).

Das Leben in einer Gesellschaft wird bei Grotius am besten durch bestimmte spezifische Rechte und Verpflichtungen für das Individuum gefördert. Es würde Unruhe in eine Gesellschaft bringen, die Dinge unsicher machen und eine reelle Gefahr für Eskalation und Konflikte bedeuten, wenn man moralische Tugenden im weiten Sinne als rechtlich, d.h. als jus im eigentlichen Sinne behandeln würde. Er verleugnet nicht, dass es andere natürliche „Rechte“ gibt, aber er spricht ihnen den Status als Recht im juristischen Sinne ab, auch weil diese anderen „Rechte“ ohne diesen Status bestehen könnten. Er ist zusammen mit Aristoteles der Ansicht, dass Tugend Freiheit voraussetzt oder dass Tugend nicht erzwungen werden darf. (z.B. II,xx,XX,1 ) Die Tugenden oder „Rechte“, die man in Bezug auf die justitia attributrix hat, lassen sich ausgezeichnet als moralische Verpflichtungen realisieren.

In den anglo-amerikanischen Ländern war das Interesse für Grotius immer sehr groß. Mit Hinblick auf England kann man berechtigterweise behaupten, dass nicht John Locke der wichtigste Urheber der englischen Glorious Revolution im Jahre 1689 war, sondern viel eher Hugo Grotius. Und es ist damit auch möglich Verbindungslinien zwischen der amerikanischen Revolution und Grotius aufgrund seines großen Einflusses auf John Locke und spätere englische, schottische und amerikanische Naturrechts- und Aufklärungsdenker zu ziehen. Es wird behauptet, dass John Locke den zentralen materiellen Inhalt seines Rechtsdenkens von Grotius übernommen hat. Was Locke in Wirklichkeit tat, war zu sagen, dass die Rechtstheorien, die Grotius auf grundätzlich zwischenstaatliche Verhältnisse anwandte, auch innerhalb eines Staates volle Gültigkeit hätten oder haben sollten.

Zusammenfassung

Für Grotius ist die Quelle des Naturrechts das, was notwendig ist, um eine Gesellschaft, die aus rationalen Wesen besteht, zu schützen und aufrecht zu erhalten. Diese Grundlage beinhaltet vor allem eine Verpflichtung nicht anzutasten was einem anderen gehört. Denn Recht im eigentlichen Sinne bedeutet den Schutz dessen, was einem selbst gehört (suum), d.h. das Eigentum im weitesten Sinne, oder das Recht auf Leben, Freiheit und rechtmäßig erworbenes Eigentum. Diese Rechte sieht Grotius als das Mittel an, durch das die Ziele Selbsterhaltung und sozialer Friede erreicht werden können.

Grotius’ Ideen breiteten sich schnell über das Europa des 17. Jahrhunderts aus, besonders in England, doch auch in hohem Maße innerhalb der schottischen Aufklärung. In Deutschland wurden seine Ideen besonders durch Pufendorf verbreitet. Grotius’ Theorie von den Rechten als einer Art natürlicher Attribute, die den Individuen innewohnt, sollte große Aufmerksamkeit und Durchschlagskraft in der Gedankenwelt der modernen europäischen Politik bekommen. Sein, in Vergleich mit allen früheren Naturrechtslehren, umfassendes und detailliertes Naturrechtssystem wurde zum Steinbruch aller späteren Naturrechtsgebäude.

Der Appell der Idee bestand im theologisch neutralen, „minimalistischen“ Naturrecht, das mit einem ausgeprägten Realismus kombiniert war. Grotius glaubte, dass diese Kombination seinem Hauptziel dienen würde, nämlich Kriege, die durch Religion und rohe Machtansprüche motiviert seien, zu verhindern, bzw. zu lindern.

Literatur:

Grotius: De Iure Belli ac Pacis. Aalen: Scientia Verlag 1993 (bei Aure).

J. H. v. Kirchmann (Hrsg.): Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens in welchem das Natur- und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden, Band 1, Berlin, 1869 (Nachdruck Elibron Classics, o.O. 2007).

Aquinas, Thomas. Summa Theologica. In: Aquinas Sected Political Writings, A.P. D’entrèves (Hg), Oxford, 1959.

Aristotle. Topics. In: The complete works of Aristotle, Jonathan Barnes (Hg.), Princeton, 1984.

1 Andreas H. Aure: Der säkularisierte und subjektivierte Naturrechtsbegriff bei Hugo Grotius (13. Februar 2008), in forum historiae iuris, http://www.forhistiur.de/2008-02-aure/?l=de. Soeben erschienen: Aure, Andreas Harald: The Right to Wage War (jus ad bellum). The German reception of Grotius 50 years after De iure belli ac pacis. Online erhältlich bei: http://bwv.verlag-online.eu/shop/bwv/apply/viewdetail/art/3237/

2 Das Naturrecht anthropologisch zu begründen stellt einen wichtigen Zwischenschritt der Aufklärungsphilosophie von ihren theologischen und antiken Quellen zu einer Gesellschaftstheorie dar, die die Geschehnisse nicht auf einen zentralen Willen zurückführt, d.h. zu einer Systemtheorie. Die Natur des Menschen ist in theologischer Sicht ein Werk der Schöpfung, und damit Ausdruck von Gottes Wille. Daher sind die Wesensarten des Menschen einschließlich seiner Willensfreiheit gottgewollt und absolut gut. Eine anthropologische Begründung des Rechts löst sich somit von der theologischen Argumentation, sie baut aber noch immer axiomatisch auf den Glaubensgrundsätzen auf. Anthropologische Argumentationen finden wir bei Hobbes (der Mensch ist böse) und bei Rousseau (der Mensch ist gut), selbst noch Humboldts Bildungsbegriff ist letztlich anthropologisch begründet. Die Aufgabe dieses Ansatzes in der Schottischen Aufklärung setzt ein realistisches Menschenbild voraus, bei dem die moralische Qualität des Menschen an Bedeutung verliert, weil die Wirkungen des menschlichen Handelns auf der unmittelbaren und der globalen Ebene als nicht direkt verkettet begriffen werden. Auch moralisch verwerfliche Handlungen können sich für das Gemeinwohl positiv auswirken. An die Stelle der Anthropologie tritt die Ökonomik, die Lehre von den anonymen Marktgesetzen.

3 Wenn nicht anders vermerkt beziehen sich alle Zitate und Quellenverweise auf Grotius: De Iure Belli ac Pacis.

4 Der Selbsterhaltungstrieb ist eines der Fundamente von Hobbes Lehre. Auch Kant knüpft daran an. Die Soziabilität taucht wieder auf bei Hume, der den Menschen als Gesellschaftswesen ansieht. Die Intelligenz ist für Kant die Voraussetzung für die Freiheit des Menschen. Grotius zählt sie auf, gewichtet sie aber nicht. Die Axiome können nicht vollständig aus allen denkbaren Fällen hergeleitet werden und bleiben daher strittig. Es lassen sich sowohl Fälle der Selbstzerstörung als auch der Abwendung von der Gesellschaft aufzeigen. Problematisch ist auch die Voraussetzung von Sprache und Vernunft, da sie zwar auf die menschliche Gattung, nicht aber auf alle Menschen zutrifft.

5 Mises bestreitet die Möglichkeit, absolute Werte zu definieren (Theorie und Geschichte). Für jede Naturrechtslehre ist dies aber eine unverzichtbare Grundannahme. Da Grotius keinen Beweis für die Universalität der Annahmen liefert, hängt die Naturrechtslehre an der Zustimmung zum vorausgesetzten (christlichen) Menschenbild. Wer nicht bereit ist, es zu akzeptieren, wird auch die naturrechtlichen Folgerungen anzweifeln. Das trifft auf alle Spielarten des Naturrechts zu, auch auf Rothbards Ethik der Freiheit (Selbsteigentum). Mises und Hayek argumentierten utilitaristisch und systemtheoretisch, indem sie die Funktion des Rechts im Nutzen sahen, die Voraussetzungen für das Bestehen von Großgesellschaften und damit für das Wohlergehen fast aller Menschen zu sichern. Sie argumentieren also vom anderen Ende der Kausalkette her. Wenn eine Rechtsordnung besteht, kann die menschliche Gesellschaft prosperieren. Sie leiten die Soziabilität aus der Fähigkeit des Individuums zur Erkenntnis des Nutzens der Gesellschaft für es selbst ab. Die liberalen Werte gelten nicht universell, sondern nur für die überwältigende Mehrheit der Menschen. Wer nicht prosperieren möchte, z.B. aus religiösen Gründen Armuts- und Keuschheitsgelübde ablegte, wird liberalen Werten wie die Hebung des allgemeinen Lebensstandards nicht vorbehaltlos zustimmen können.

6 Der Rechtspositivismus kann folglich keine Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz treffen. Recht wäre die Summe des Gesetzes und damit identisch mit dem Willen des Gesetzgebers. Damit entfällt auch die Möglichkeit, die Gerechtigkeit von Gesetzen zu beurteilen.

7 Diese Unterscheidung taucht wieder bei Hume und Mises/Hayek als Klein- und Großgesellschaft auf, wobei Staat bei Grotius unserem Begriff der Nation entspricht.

8 Damit wird der Theologie das Erklärungsmonopol in Rechtsfragen genommen. Die rationalistische Philosophie soll deren Nachfolge antreten.

9 Damit wird der Kirche das Erklärungsmonopol in Rechtsfragen streitig gemacht.

10 Durch die Zusammenfassung des göttlichen mit dem menschlichen Willen zum gewollten Recht wird dem Naturrecht implizit ein höherer Rang eingeräumt als dem göttlichen Willen. Dies wird noch deutlicher in der These, dass auch Gott nicht gegen das Naturrecht handeln kann.

11 Auch dieser Ansatz ist eine Relativierung der christlichen Überlieferungen und der kanonischen Schriften.

12 Die Unterscheidung von theoretischen Beweisen und Argumenten a priori und historischen Erfahrungen a posteriori ist für Mises Lehre konstitutiv. Mises stellt seine Handlungskategorie a priori als unwiderlegbar dar.

13 Das Prinzip, dass in Glaubensfragen die weltliche Macht das letzte Wort hat, unterstellt die Kirche faktisch der staatlichen Obrigkeit. Religion wird Staatsreligion. Es war eine entscheidende Bedingung für die Herausbildung von Nationalstaaten und überwand den mittelalterlichen Dualismus von Papsttum und Kaisertum. Gleichzeitig aber bleibt die Tür zur Unterdrückung der Glaubensfreiheit offen. Das Vorbild dieser Idee findet sich in Frankreich. Der französische König Heinrich IV. beendete mit dem Edikt von Nantes 1598 die hundert Jahre dauernden Hugenottenkriege, indem es den Calvinisten Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung in ihren Gebieten sowie den Zugang zu öffentlichen Ämtern gestattete. Kardinal Richelieu annullierte einige Klauseln bereits 1629 wieder. Ludwig XIV. widerrief es 1685 ganz, 60 Jahre nach Grotius Schrift. Damit wurden dem Protestantismus die rechtliche Grundlage wieder entzogen. Hunderttausende flohen in die Niederlande, die Schweiz und nach Preußen. Die Jansenisten wurden verfolgt.

14 Wir befinden uns im Zeitalter der Glaubenskriege, die sich als Folge der Reformation (Luthers 95 Thesen, 1517) und der Gegenreformation (Konzil von Trient, 1545) ergaben. Das Konzept des Naturrechts ist der Versuch, ein von historischen Wechselfällen unabhängiges Rechtssystem zu konstruieren, das über den Glaubensbekenntnissen und über den Gesetzen der Obrigkeit steht, während die Herausarbeitung der Kernideen aller christlichen Bekenntnisse auf Kosten der sekundären einen anderen Versuch darstellt, das Schisma zu überwinden und die Welt zu befrieden. Die klassischen Aufklärer werden sich noch radikaler vom Glauben als Grundlage rationalen Handelns lösen und eine Gesellschaftstheorie ohne Gott konzipieren, während der Glaubensstreit zur Privatsache erklärt wird.

15 Der Toleranzgedanke setzt eine Degradierung der Theologie und der Religion voraus. Die Rechtsordnung wird über die Glaubensfragen gestellt. Nur so kann ein Friede unter den zerstrittenen Religionen einkehren.

16 Wir haben hier eine Kernidee des klassischen Liberalismus, nämlich das, was unter innerem Frieden zu verstehen sei. Die Alternative besteht in friedliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen oder räuberischer Aggressivität zu Gunsten des einen auf Kosten des anderen, d.h. zwischen Zivilisation und Barbarei.

17 Staat denkt sich Grotius bereits abstrakt gesamtgesellschaftlich. Er unterteilt nicht in Obrigkeit (= Staat) und Volk, sondern denkt sich den Staat als die alles umspannende Gemeinschaft. „Wie nun das Recht eines jeden Staates auf den Nutzen des Staates eingerichtet ist, so hat auch unter allen oder mehreren Staaten durch Übereinkommen ein Recht sich bilden können, und das so entstandene Recht wird nicht den Nutzen einzelner Genossenschaften, sondern den des großen Ganzen berücksichtigt haben.“ (Proleg. 17) Es handelt sich um den Kern der nationalen Idee. Die moderne Idee der Nation umfasst alle Einwohner eines Rechtsgebietes, das wie ein Rechtssubjekt handeln kann. Es hat als Ganzes Rechte und diese können (von außen) verletzt werden. Daher ist es auch möglich, gerechte Kriege zu führen, die zum Ziel haben, die verletzten Rechte wieder herzustellen. Im Unterschied dazu handelt der kriegführende Feudalherrscher im eigenen Interesse. Ihm geht es um die Ausweitung seiner persönlichen Macht auf Kosten anderer. Létat cest moi. Damit ist auch bereits der Idee der Verfassung die Tür geöffnet, der sich auch der Monarch unterwerfen muss, weil sie Ausdruck des zeitlosen Naturrechts ist.

18 Vgl. das Kapitel über Fréderic Bastiat in Krebs: Klassischer Liberalismus, Norderstedt, 2014.

19 Das Naturrecht zieht bei Grotius obrigkeitlicher Willkür eine Grenze, denn: „Das ist bei allen rechtlichen Leuten außer Zweifel, dass, im Fall jene etwas befehlen, was dem Naturrecht oder den Geboten Gottes widerstreitet, man es nicht zu tun brauche.“ (I,iv,2) Es zieht jedoch auch der absoluten Willkür der Bürger eine Grenze: „Nach dem Naturrecht haben zwar alle, wie erwähnt, das Recht, Schaden von sich abzuhalten. Aber wenn die bürgerliche Gesellschaft zum Schutz der öffentlichen Ruhe eingerichtet ist, so erwächst daraus für den Staat unmittelbar ein gewissermaßen höheres Recht gegen uns und das unsrige, soweit er dessen zu jenem Zweck bedarf. Der Staat kann deshalb dieses unbeschränkte Recht des Widerstandes um des Friedens und der öffentlichen Ordnung willen aufheben, und dass er dies gewollt hat, ist unzweifelhaft, da ohnedem er seinen Zweck nicht erreichen kann. Denn so lange jenes unbeschränkte Recht des Widerstands besteht, ist noch kein Staat vorhanden, sondern eine Menge Einzelner, wie bei den Zyklopen, wo: ,Jeder seinen Frauen und Kindern das Gesetz gibt; ein wilder Haufen, wo keiner auf den andern in etwas hört.“ (I,iv,II) Das staatliche Gewaltmonopol rechtfertigt sich aus der Erhaltung der Rechtsordnung und des inneren Friedens. In diesem Punkt widerspricht ihm Locke, stimmen ihm Kant und Mises zu.

20 Vgl. Kritik Mises und Hayeks am Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“.

21 Der schräge Begriff des Selbsteigentums bei Locke und Rothbard hat ihren Ursprung in einem sinnvollen Eigentumsbegriff bei Grotius. Recht ist bei ihm Fähigkeit: „Sie umfasst die Macht sowohl über sich selbst, welche Freiheit heißt, als über andere, wie die Gewalt des Vaters oder des Herrn; ferner das Eigentum, das volle wie das beschränkte, z.B. den Nießbrauch, das Pfandrecht; ferner das Darlehen, welchem die Schuld des Gegners entspricht.“ (I,i,V)

22 Kant spricht von Mein und Dein. Auch er geht von einem Recht aus, zu nehmen, was der Mensch zum Leben braucht, das vor allen Gesetzen besteht. Das Mein und Dein ist bei Kant die innere und äußere Existenz des Menschen, seine Fähigkeiten und sein Besitz, die ihm zum Leben zur Verfügung stehen, wozu auch die Angehörigen zählen.

23 Bei Hume wird Recht notwendig, um vorhandene Konventionen sanktionsfähig zu machen, nachdem sich aus Klein- Großgesellschaften gebildet hatten. Bei Kant besteht der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum darin, dass Eigentum einen allgemeingültigen und durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Besitz darstellt, wozu ein Staat erforderlich ist, während Besitz sich auf die physische Seite des Habens bezieht.

24 Grotius Anthropologie sieht den Menschen realistisch. „Unter den Naturtrieben ist nun keiner, welcher dem Kriege entgegen wäre; vielmehr sind alle ihm günstig. Denn das Ziel des Krieges ist die Erhaltung des Lebens und der Glieder und die Verteidigung oder Erwerbung der zum Leben erforderlichen Güter.“ (I.ii,I,4) Daher ist es erforderlich, „dass die Dinge mit der Vernunft übereinstimmmen müssen, welche dem Körper vorgehe.“ (I.ii,I,2). Vgl. Kants Begriff der Freiheit als dem Vermögen kraft seiner Pflicht zu handeln und nicht seinen Neigungen unterjocht zu sein.

25 „Der Mensch hat vor den übrigen Geschöpfen nicht bloß jenen erwähnten geselligen Trieb empfangen, sondern auch die Urteilskraft, um das Angenehme und das Schädliche zu bemessen, und zwar nicht bloß das Gegenwärtige, sondern auch das Zukünftige, und die Mittel dazu.“ (Proleg., 9) Wir sind hier schon ganz dicht an der Praxeologie Ludwig von Mises. Grotius steht auf der Seite der Verantwortungsethiker.