Buch des Monats September 2016
Buch des Monats September 2016

Buch des Monats September 2016

Wer sich mit den Ursachen der aktuellen Terrorwelle befasst, stößt auf unterschiedliche Erklärungsmodelle. Einen tiefschürfenden, psychologischen Ansatz hat Arno Gruen bereits 2002 formuliert. Überarbeitet und unter dem Titel „Wider den Terrorismus“ liegt seit 2015 ein kleines, eindringliches Buch vor, das fehlende Empathie in den Mittelpunkt rückt. Das ist das Lebensthema des Psychologen und Psychoanalytikers. Wer das Eigene als etwas Schlechtes empfindet, zumeist weil er als Kind stets gehorchen musste, wer sogar Hass auf sich selbst empfindet, kann diesen Hass auf andere projizieren: „Es ist diese Selbstzerstörung, die allen terroristischen Akten gemeinsam ist.“ urteilt Arno Gruen. Den Terroristen gehe es um Todessehnsucht, die angesichts ihres leeren Selbst vor dieser Leere davonliefen. Und er fährt fort: „Die Identifikation mit den Mächtigen verhindert die Entfaltung eines eigenen Selbst und dadurch die Entwicklung wahrer Selbstbestimmung und Verantwortung.“
In dieser Perspektive sind die Terroristen Feiglinge, Bücklinge, und – was ihre Persönlichkeit betrifft – ganz arme Schweine, ausgerechnet. Sie haben ihr Schicksal nie selbst in den Griff bekommen. Sie versuchen es durch das Töten und bleiben doch unselbständig. Es handelt sich um Menschen ohne eigene Identität und ohne Würde. Bedenkenswert erscheint der Bezug auf die spezifisch islamische Muttergeschichte, zumal das Problem der unterdrückten Frau im Islam eine weitere dramatische Bedeutung erlangt.
In Frankreich wird eine intensive Debatte zwischen Gilles Kepel und Olivier Roy ausgetragen, in der sich die These einer „Radikalisierung des Islam“ und der „Islamisierung der Radikalität“ gegenüberstehen. Während Kepel eine radikalisierte Religion beobachtet, hält Roy den Islam nur für ein Mäntelchen, das sich die Gewalttätigen umhängen. Der nach seiner Emigration 40 Jahre lang in den USA lebende Gruen lässt sich dem realpolitisch, nicht dem religiös argumentierenden Lager zuordnen.
Antiindividualität ist ein Ausdruck von Antiliberalität. Fehlende Freiheit geht mit fehlender Selbstverantwortung Hand in Hand. Welch einfache und zugleich tiefgründige Antwort! Schade, dass der 92 Jahre alte Arno Gruen nur gut ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Büchleins gestorben ist.
Ein kurzes (letztes) Interview über sein Buch findet sich hier.
Arno Gruen: Wider den Terrorismus, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015, 88 S., 12,00 Euro.