Warme Welt, kalte Welt
Warme Welt, kalte Welt

Warme Welt, kalte Welt

Über die Probleme unseres Sprechens über Immigration und Flucht – und warum eine Verständigung so schwer erscheint  
von Gunnar Kaiser
Wir leben in zwei Welten. Jeder von uns wechselt von der einen in die andere und zurück, täglich, stündlich, ohne es zu bemerken. Die erste Welt, die wir als Menschen in unserem Leben kennenlernen, ist die der persönlichen Berührung, des direkten Austauschs mit anderen Individuen, der engen interpersonalen Beziehung. Wir kennen sie individualgeschichtlich in Familie und in Freundschaften, in kleineren, oft freiwillig eingegangenen Gemeinschaften.
Die Handlungen in dieser Welt sind von sozialen Sanktionen im doppelten Sinne gesteuert: von Belohnungen (z. B. Lob oder Glückwünsche) für willkommene und Strafen (z. B. Drohungen, Beleidigungen, Ausgrenzung) für unwillkommene Aktionen. Sie sind reziprok im soziologischen Sinne, das heißt, sie beziehen sich aufeinander und stehen in einem Wechselverhältnis, wie es vor allem für den Tausch signifikant ist, eine durch Freiwilligkeit und gegenseitigen Vorteil geprägte Aktivität, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Auch das Teilen oder soziologische Phänomene wie Gabe und Gegengabe gehören in diesen Bereich. Kooperation steht also in dieser ersten Welt im Vordergrund. Sympathie und Antipathie, aber auch Hierarchie, z. B. in Familie und Stamm, sowie Autorität beeinflussen unsere Handlungen innerhalb dieser Welt. Weil sie uns natürlich zu sein scheint, weil sie unseren Instinkten so entgegenkommt, weil sie von Emotion geprägt ist, nenne ich sie hier „die warme Welt“.
Weil diese warme Welt das Reich ist, in dem wir sowohl individuell als auch evolutionsgeschichtlich aufgewachsen sind, prägen ihre Gesetze und Mechanismen alle Beziehungen in unserem Leben ebenso entscheidend wie unbewusst.
Während nun der vormoderne Mensch nur dieser einen Welt angehörte, dem Reich der Sippe, in der jeder jeden kannte, sind wir heutigen Menschen zugleich Angehörige einer weiteren Welt. Diese „kalte Welt“ ist die der anonymen Beziehung, in der jeder zwar seinen individuellen Plänen folgt, aber in der (oft indirekten) Interaktion keine Gefühlsebene vonnöten ist, sondern allein Selbstinteresse und Rationalität in der Wahl der Mittel ausreichen. Es ist die Welt des Marktes und der Öffentlichkeit, in der die Beziehungen sich entpersonalisiert haben. Es ist eine Welt, in der Distanz und kaltes Abwägen nicht nur als hilfreich, sondern auch als überlebenswichtig empfunden werden. Während in der warmen Welt Unmittelbarkeit und Kurzfristigkeit wertvoll sind, gelten in der kalten Welt langfristige Überlegungen mehr. Während die warme Welt den belohnt, der spontan und ohne Abwägen von Zweck und Mittel agiert, wird gleiches Verhalten in der kalten Welt als sozialromantisch, weltfremd und naiv verurteilt.
Dieses „Zwei-Welten-Theorem“ wurde von dem österreichischen Ökonomen und Philosophen Friedrich August von Hayek formuliert. Seine Überlegungen können auch angesichts der Diskussion über Einwanderung Licht ins Dunkel bringen, prägt die Unterscheidung zwischen warmer und kalter Welt doch den privaten und öffentlichen Austausch auch über dieses Thema, wie täglich deutlich wird.
Die für uns bedeutendste Feststellung dürfte sein, dass geradezu unüberwindbare Probleme dort entstehen, wo der Mensch beide Welten miteinander vertauscht. Sowohl die warme als auch die kalte Welt bildet je ein selbstregulierendes System, das eigenen Gesetzen folgt. Sobald nun jemand die Logik der warmen Welt auf die kalte überträgt, macht er sich quasi eines Kategorienfehlers schuldig, ebenso wie derjenige, der es umgekehrt macht. Wer familiäre Konflikte und Beziehungen angeht, wie er Börsenwerte liest, handelt ebenso „ver-rückt“ wie der, der gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie einen weihnachtlichen Familienzwist lösen will.
„Warme“ Regeln der Solidarität, mit denen man Gutes tun will, können den unpersönlichen Markt ins Wanken bringen. Selbstinteresse und Profitstreben, die für den Erfolg von Märkten verantwortlich sind, können hingegen Familien und kleine Gruppen zersetzen.
Es fängt dort an, wo dem Phänomen ein Name gegeben wird, denn mit der Benennung beginnt der Versuch, Herrschaft über den Diskurs zu erlangen. Daher sollten wir unser Augenmerk auf die Zugehörigkeit der Wörter lenken, mit denen wir derzeitige Phänomene beschreiben: generell gehört „Flüchtlinge“, „Verfolgte“, „Kriegsopfer“ zur warmen Welt, während „Migranten“, „Asylanten“, „Einwanderer“ eher zur kalten zu zählen wären. Je nach Sprachgebrauch kann man davon ausgehen, dass ein Diskursteilnehmer seine Position bezüglich des Themas damit untermauern möchte, dass er an Gefühl, Menschlichkeit und Nähe bzw. an Vernunft, Kaltblütigkeit und Distanz appelliert.
In der aktuellen Diskussion sehen wir die Problematik dort auftreten, wo Menschen aus unterschiedlichen „Welten“ heraus auf die Phänomene blicken. Für diese Konflikte bilden sich dann jeweils Kampfbegriffe aus, die dem Gesprächspartner seine „Herkunft“ unbewusst vorwerfen. Es erscheint den Angehörigen der warmen Welt derjenige, der beispielsweise für Obergrenzen, Abschiebung oder geschlossene Grenzen plädiert, als Nazi, Wutbürger und reaktionär. Wer etwa Statistiken zum Thema Migrantenkriminalität anführt, wird von der anderen Seite schnell als fremdenfeindlich diffamiert; dies mitunter mit dem Kommentar: Es geht doch um Menschen, nicht um bloße Zahlen!
Vice versa gilt der Befürworter einer Willkommenskultur, die fremde Menschen wie nahe Angehörige behandelt oder kulturelle Unterschiede für bereichernd oder nichtig erklärt, in der kalten Welt als Gutmensch.
Kurz: Reaktionär ist für den einen der, der kalte Logik auf das Warme bezieht; Gutmensch ist für den anderen der, der die warme Logik auf das Kalte bezieht.
Die Markierung von „Gutmensch“ als Unwort (2011 auf dem zweiten, 2015 endlich auf dem ersten Platz) zielt übrigens in die Richtung, den Kritikern eines naiven Einwanderungsbegriffs die Macht der Etikettierung ihrer Gegner zu entziehen. „Wutbürger“ hingegen wurde zum Wort des Jahres 2010 gewählt – diese abwertend gemeinte Bezeichnung Andersdenkender ist also nicht als zu vermeiden markiert, sondern den Kritikern der „Festung Europa“ zur Etikettierung ihrer Gegner geradezu ans Herz gelegt.
Beide Seiten begehen jedoch einen Kategorienfehler, wenn sie sich auf Dinge beziehen, die der einen Welt zugehören, sie aber mit der Logik der anderen zu beschreiben und zu lösen versuchen. Hayek schreibt:
„Unsere Schwierigkeit besteht zum Teil darin, daß wir unser Leben, unsere Gedanken und Gefühle unentwegt anpassen müssen, um gleichzeitig in verschiedenen Arten von Ordnungen und nach verschiedenen Regeln leben zu können. Wollten wir die unveränderten, uneingeschränkten Regeln des Mikrokosmos (d. h. die Regeln der kleinen Horde oder Gruppe oder beispielsweise unserer Familien) auf den Makrokosmos (die Zivilisation im großen) anwenden, wie unsere Instinkte und Gefühle es uns oft wünschen lassen, so würden wir ihn zerstören. Würden wir aber umgekehrt immer die Regeln der erweiterten Ordnung auf unsere kleineren Gruppierungen anwenden, so würden wir diese zermalmen. Wir müssen also lernen, gleichzeitig in zwei Welten zu leben.“
Beide Seiten können aber auch die Argumente des Gegners aushebeln, indem sie sie auf die andere Welt hinüberziehen. Deswegen ist es so wichtig, in den Hinterköpfen die passenden Bilder entstehen zu lassen. Ob man im „dem Flüchtling“ vor allem ein kleines Kind sieht, eine junge Frau oder alte Menschen, oder auf der anderen Seite „den Migranten“ als starken Mann im wehrpflichtigen Alter beschreibt, beeinflusst mit den passenden Bildern eben auch die Höhe der Hemmschwelle in der Diskussion, deren Überschreitung unmittelbar ins Reich des politischen Inkorrekten führt.
Die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo hat dies im Januar 2016 mit ihrer Karikatur auf die Spitze getrieben, indem sie unter der Überschrift „Was wäre aus dem kleinen Aylan geworden, wenn er groß geworden wäre?“ beide Vorstellungen in ein einziges Bild gepresst hat. Die Unerträglichkeit, die in dieser Darstellung liegt, die den erwachsenen Mann, der deutsche Frauen belästigt, mit dem tot am Strand liegenden Jungen in bildliche Beziehung setzt, dürfte neben der Pietätlosigkeit Aylan Kurdi und seinen Angehörigen gegenüber in der Verwirrung liegen, in die uns eine solche Engführung stürzen muss. Mit der Vorstellung eines kleinen Kindes im Hinterkopf sind wir psychologisch geradezu gezwungen, in der Logik der warmen Welt zu denken, während die eines erwachsenen Mannes uns solche Hemmschwellen nicht auferlegt.
Die Diskursherrschaft ist so auch immer eine Frage der medialen Macht. Ob man für bestimmte Gruppen von Menschen innere Bilder wie die von gebeugten Familien mit kleinen Kindern evoziert oder solche von jubelnden Männern mit ungewöhnlich dunklem Bartwuchs, verändert zum einen unsere Sicht der Dinge. Vielleicht ist dies deutlich geworden bei dem Umschwung in Angela Merkels Haltung zur „Flüchtlingsfrage“ im Herbst 2015: Einige Beobachter sehen einen Kausalzusammenhang dieses Umschwungs mit ihrem Gespräch mit einem weinenden (!) Flüchtlings(!!)mädchen (!!!), dem sie mitteilen musste, dass nicht alle bleiben können, die zu uns kommen. Der Vorwurf der Kaltherzigkeit blieb in den Medien nicht aus – die Regeln der warmen Welt, an denen wir uns angesichts eines weinenden Mädchens instinktiv orientieren, wurden auf die kalte Welt übertragen, in der Menschen notwendigerweise auch auf Zahlen reduziert werden und abstraktes Denken und unbarmherziges Rechnen vonnöten sind.
Doch nicht nur unsere Sichtweise, sondern auch unsere Verständigung über diese wird mit den jeweiligen Assoziationen verändert. Die Gefahr liegt dabei darin, dass uns angesichts der disparaten Bilder, die die Diskutanten jeweils mit dem Phänomen assoziieren, und angesichts ihrer unbewussten Implizitheit, uns die Möglichkeit verloren geht, sinnvoll miteinander über ein und dasselbe ins Gespräch zu kommen.
Dies merkt man beispielsweise auch bei dem anscheinend erfolgreichen Versuch, die Position der AfD zur Einwanderungsdebatte mit dem Begriff „Schießbefehl“ und insbesondere „Schießbefehl auf Frauen“ zu verbinden. Ungeachtet der Tatsache, dass ja jedes Gesetz in der ultima ratio ein Schießbefehl ist, also auch etwa die Befürworter von Mindestlohn oder von Schulpflicht per definitionem Befürworter eines Schießbefehls sind (letzten Endes und ja: auch auf Frauen), gelingt es einigen Diskutanten, die Stellungnahme für die AfD-Position durch ihre Assoziierung mit allem, was dem Terminus „Schießbefehl auf Frauen“ anhaftet (Todesstreifen, Sexismus), geradezu unmöglich zu machen. Allerdings nur, wenn man sich in dieser Hinsicht Logik der warmen Welt unterwirft – niemand will als Unmensch gelten, niemand will auf Menschen schießen lassen müssen etc. Es ist eine geradezu pathologische Sehnsucht nach vormoderner Unmittelbarkeit, ja Unschuld, die aus dieser Kritik spricht.
In der kalten Welt wiegen diese Argumente aber viel weniger: Wenn Gesetze nötig sind, ist auch ihre Durchsetzung nicht bloß irgendeine vage Empfehlung. In der kalten Welt ist es rational und folgerichtig, vor den Folgen eines befürworteten Gesetzes nicht die Augen zu verschließen.
Gegen eine solche Markierung kommt man argumentativ nur schwer an. Es liegt tief verwurzelt in unserem Steinzeit-Instinkt, nicht als kaltherzig gelten zu wollen. Das Englische hat seit kurzem dafür das Wort „virtue signalling“, das im Grunde beschreibt, was mit dem Begriff „Gutmensch“ gemeint ist: Für Menschen, die die warmen Regeln in die kalte Welt übertragen, ist es bisweilen wichtiger, als gut zu gelten als tatsächlich Gutes zu tun. Dies allein kann die erstaunliche Tatsache erklären, dass die schon rein logisch und ethisch völlig unsinnige, geradezu an Realitätsverleugnung grenzende Vorstellung, Sozialstaat und für alle Welt offene Grenzen seien miteinander vereinbar, nicht als solche erkannt, sondern als menschlich, herzlich, vorbildlich empfunden wird. Diese Übertragung warmer Regeln auf die kalte Welt ist auch, wie Roland Baader schreibt, „der hauptsächliche Urquell für den aller Erfahrung und aller Vernunft widersprechenden und geradezu unausrottbaren Hang unserer Spezies zu sozialistischen Gesellschaftsmodellen.
Ebenso wie es nun geradezu die Erbsünde der Sozialisten ist, die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Welten und ihren eigensinnigen Gesetzmäßigkeiten in unserer modernen Gesellschaft nicht als solche anzuerkennen, liegen die Probleme in der Verständigung über das Flüchtlings-Immigrationsthema in dieser Ignoranz. Hier aber scheint sie auf beiden Seiten zu bestehen. Die warme Welt hat zwar in der Diskussionen einen gewissen Vorteil, da sie uns als Privatmenschen, die wir in erster Linie sind, näher und vertrauter ist. Doch keine der beiden Welten ist per se die moralischere.
Die Gefahr besteht eben in der Übertragung der warmen Ethik auf die kalte Welt und umgekehrt. Die unbedingte Selbstaufgabe und Solidarität im Privaten kann im Anonymen zerstörerisch, und damit gerade unmoralisch sein.
Wir sollten uns bewusstmachen, welcher Welt wir wann angehören und zu welchem Zeitpunkt es nötig ist, sich welcher Logik zu bedienen. Wir sollten dabei bedenken, dass unsere politischen Gegner oft „nur“ andere Bilder im Hinterkopf haben, über die uns auszutauschen ein gegenseitiges Verständnis noch am ehesten ermöglichen kann.